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Benjamins Engel der Geschichte

Es ist eine Ikone des 20. Jahrhunderts und zugleich eines der rätselhaftesten Bilder des Malers Paul Klee (1879-1940), sein „Angelus Novus“ von 1920: Eine Figur mit Vogelfüßen, flügelartig erhobenen Armen, darüber ein großer Kopf von Locken gerahmt, der geöffnete Mund entblößt spitze Zähne, die weit aufgerissenen Augen schauen auf etwas Unbekanntes rechts aus dem Bild.

Der Philosoph Walter Benjamin (1892-1940) war so fasziniert davon, dass er das Aquarell 1921 erwarb. Das Bild prägte Benjamins Denken und begleitete den jüdischen Kunsttheoretiker ins Exil. In einem seiner letzten Texte bezeichnete er die Figur als „Engel der Geschichte“.

Jetzt ist das Blatt für kurze Zeit nach Berlin, Benjamins Heimatstadt, zurückgekehrt. Als Beitrag der Staatlichen Museen zu Berlin zum 80. Jahrestags des Kriegsendes zeigen die Skulpturensammlung, das Museum für Byzantinische Kund und die Gemäldegalerie im Bode-Museum auf der Museumsinsel von Donnerstag an die Sonderausstellung „Der Engel der Geschichte. Walter Benjamin, Paul Klee und die Berliner Engel“. „Das Bode-Museum mit dem Schwerpunkt auf christlicher Kunst zeigt Engel aus allen Epochen“, sagt Museumsdirektorin Antje Scherner. Für diese Ausstellung sei es der ideale Ort.

Den Auftakt auf dem Weg zur Sonderausstellung bildet die beschädigte Skulptur eines Verkündigungsengels ohne Flügel aus dem 15. Jahrhundert. Die Figur wurde im Mai 1945 Opfer eines Brandes im Falkbunker im Friedrichshain, wohin zahlreiche Kunstwerke der Museen ausgelagert waren. Das Engelfragment konnte jüngst mit Hilfe der Ernst von Siemens Kunststiftung restauriert werden und wird erstmals seit 1945 wieder ausgestellt, als Symbol für den Krieg und seine Zerstörungsmacht. Auf dem Weg durch die Dauerausstellung in das Sonderkabinett im zweiten Obergeschoss passieren die Besucher weitere besonders markierte Engelsfiguren, die auf das Schicksal der Kunst in Zeiten des Krieges aufmerksam machen und auf das Thema Engel einstimmen.

Doch der Höhepunkt ist das Sonderausstellungskabinett im zweiten Obergeschoss mit Klees „Angelus Novus“ im Mittelpunkt. Fasziniert vom Denken Benjamins entwickelte Kurator Neville Rowley, eigentlich Spezialist für italienische Malerei des 13. und 14. Jahrhunderts, die Idee zu dieser Ausstellung: „Benjamins Theorie zum Engel der Geschichte, dieser kurz vor seinem Tod verfasste Text, ist wie eine Präfiguration von der Zerstörung Europas im Krieg.“ Fotografien, etwa das berühmte Foto einer Skulptur mit dem Blick auf das ausgebrannte Dresden aus der Perspektive, wirken wie ein Beleg dafür.

Gegenüber dem ikonischen Blatt von Paul Klee werden unterschiedliche Manuskriptfassungen der neunten These von Benjamins Schrift „Über den Begriff der Geschichte“ gezeigt. In den Texten interpretiert er den „Angelus Novus“ von Klee als einen Engel, der sich rückwärts in die Zukunft bewegt und zurückblickt auf die Ruinen der Geschichte. 1942 wurden die kurz vor Benjamins Suizid 1940 verfassten Thesen veröffentlicht, das Klee-Aquarell überstand den Krieg in einem Versteck und kam später an das Israel Museum in Jerusalem. Kurator Rowley: „Benjamin hat es geschafft, sein eigenes Werk zu retten, aber nicht sein eigenes Leben.“

Eine kriegsbeschädigte Engelsskulptur des venezianischen Renaissance-Bildhauers Giambattista Bregno und die Reproduktion eines zerstörten Engel-Gemäldes des Barockmalers Caravaggio thematisieren Schäden und Verluste der Museen 1945. Ausschnitte aus Wim Wenders Film „Der Himmel über Berlin“ von 1987 stellen erstmals den Bezug zu Walter Benjamin und seiner Engeltheorie her.

Mit ihrem Thema und den sparsam ausgewählten Exponaten gelingt es der Schau, subtil und assoziativ den Bogen bis in die Gegenwart zu spannen. 80 Jahre nach Kriegsende stehen die Engel der Geschichte vor den Trümmerhaufen neuer Konflikte.