Historiker haben erstmals die strukturellen Ursachen für sexuellen Missbrauch im Bistum Speyer untersucht. Die Folgerungen seien wichtig für die katholische Kirche in ganz Deutschland, mahnen Betroffene.
Es ist die erste Studie zu sexuellem Missbrauch im katholischen Bistum Speyer. Und es ist eine 473 Seiten umfassende, detaillierte Analyse von Strukturen, die sexuellen Missbrauch ermöglicht und dessen Aufdeckung nicht verhindert haben.
Zentrales Ergebnis: “Sexueller Machtmissbrauch wurde früher als individuelles Fehlverhalten von einzelnen Geistlichen interpretiert. Die Kirche hat die Beschuldigten entweder individuell bestraft oder sie gar vor Anschuldigungen geschützt”, heißt es in der am Donnerstag vorgestellten Studie. “Strukturelle Probleme innerhalb der Kirche wurden dabei nicht erkannt, beziehungsweise ignoriert.”
Fehlende Machtkontrolle und eine “autoritär geprägte” Amtsausübung hätten jahrzehntelang Missbrauch und sexualisierte Gewalt durch Priester, Ordensleute und kirchliche Mitarbeiter ermöglicht. “Die kirchlichen Strukturen haben die Straftaten maßgeblich begünstigt”, heißt es in der unabhängigen Untersuchung, die seit zwei Jahren von Wissenschaftlerinnen der Universität Mannheim erarbeitet wurde.
“Mitverantwortlich für das Verschweigen von Missbrauch und die langjährige Verhinderung von Prävention dürfte zudem die rigide Sexualmoral der katholischen Kirche sein”, sagte die Historikerin und Studienleiterin Sylvia Schraut.
Die Untersuchung hat Personalakten und weitere Aufzeichnungen des Bistums für die Zeit von 1946 bis in die Gegenwart ausgewertet und kommt so zu einer Gesamtzahl von 109 Priestern und 41 Kirchenmitarbeitern, die des Missbrauchs oder sexueller Übergriffe beschuldigt wurden. Die Forscherinnen gehen von einer Dunkelziffer, also von weiteren, bislang nicht bekannten Fällen aus.
Deshalb könne man auch die Frage, wie viele Betroffene den 150 mutmaßlichen Tätern gegenüberstünden, nicht genau beantworten, sagte Schraut. Eine Sprecherin des Bistums Speyer teilte auf Anfrage der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) mit, insgesamt lägen 396 Meldungen von Betroffenen vor. “180 Meldungen liegen in der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit beim Bistum Speyer.” Das Bistum habe bisher rund 3,6 Millionen Euro an insgesamt 96 Missbrauchsbetroffene gezahlt, etwa für Therapiekosten.
Laut der Studie geschah die Hälfte der Missbrauchstaten in den 1950er und 1960er Jahren, danach ging die Zahl der Fälle zurück. Als einen “Hotspot” für Übergriffe bezeichnet die Untersuchung kirchliche Heime sowie Internate für Kinder und Jugendliche. Dort hätten Kleriker und andere Berufsgruppen jahrelang ein “Betriebsklima” vorgefunden, “das sexuelle Übergriffe erleichterte”, heißt es in der Studie. “Es gab eine massive Gewalt bis in die 1970er Jahre hinein”, sagte Schraut.
Auffällig sei eine hohe Zahl von früheren Heimleitern unter den Beschuldigten. Bei Heimleitern habe es eine “extreme Macht- und Ämterkonzentration” gegeben: “Sie waren oft die einzigen Ansprechpersonen für die Kinder, die Behörden und die Medien.” Beispielsweise kam es in einem früheren Kinderheim der Niederbronner Schwestern in der Speyerer Engelsgasse zu Missbrauch und Gewalt. “Unter den 41 beschuldigten Nichtklerikern sind auch Nonnen”, sagte die Studienleiterin.
“Die von Rom gestützte Autonomie der Orden ermöglichte geistliches Handeln im Bistum weitgehend ohne Kontrolle”, betonte Schraut. “Das Aufsichtsverhältnis in der Zusammenarbeit von Orden und Bistum ist bis heute nicht befriedigend gelöst.”
Und welche Verantwortung tragen die Speyerer Diözesanbischöfe für den Missbrauch? “Wir haben in dieser Studie bewusst nicht die Bischöfe ins Zentrum gestellt”, sagte die Historikerin. Es gehe eher darum, strukturelles Fehlverhalten der Bistumsverwaltungen über die Jahrzehnte hinweg herauszuarbeiten. Dazu und zu den Konsequenzen für die Zukunft wird auch der seit 2008 amtierende Bischof Karl-Heinz Wiesemann am Freitag in einer Pressekonferenz Stellung nehmen.
Seine Amtsvorgänger waren Anton Schlembach (1983-2007) und Friedrich Wetter (1968-1982). Der heute 97-jährige Wetter leitete im Anschluss an seine Zeit in Speyer das Erzbistum München und Freising von 1982 bis 2008; 1985 wurde er zum Kardinal erhoben.
Die Universität Mannheim kündigte an, innerhalb des auf vier Jahre angelegten Forschungsprojekts 2027 einen zweiten Bericht zu veröffentlichen. Darin soll es um konkrete und detaillierte Fallanalysen gehen.
Der Speyerer Generalvikar Markus Magin sagte am Donnerstag, die Studienergebnisse seien “sehr belastend”. Es habe im Bistum und in der katholischen Kirche in Deutschland inzwischen jedoch “Entwicklungsschritte der Veränderung” gegeben. Magin fügte hinzu: “Wir sind eine lernende Institution.”