Herr Wollenweber, Sie haben 1997 einen ersten Kontakt aufgenommen zu dem damaligen Bischof Wolfgang Huber, um über eine neue Kirche zu sprechen. Was hat Sie dazu bewogen?
Klaus Wollenweber: Meine Vision war, nach der politischen Wende eine große Ostkirche innerhalb der Evangelischen Kirche der Union (EKU, heute UEK) zu bilden – entsprechend den beiden großen EKU-Kirchen West, Rheinland und Westfalen. Diese Vision hatte mich schon länger als theologischer Oberkirchenrat (OKR) in Berlin beschäftigt. Zu der Zeit hatte ich für die Umsetzung natürlich weder die Macht noch die Möglichkeit. Wir Oberkirchenräte waren die Zuarbeiter der Bischöfe im Rat der Evangelischen Kirche der Union (EKU, heute UEK). Aber als ich dann zum Bischof der schlesischen Kirche gewählt war, dachte ich: Jetzt müsste ich das eigentlich umsetzen.
Das ließ sich aber so wie gedacht nicht realisieren. Warum?
Ich kam zu spät mit dem Gedanken. Denn die Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (KPS) hatte schon Kontakt mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen aufgenommen, mit der sie sich 2009 zur Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) zusammenschloss. Und der damalige Bischof Eduard Berger von der Pommerschen Evangelischen Kirche tendierte ganz stark zu einer Nordkirche, also der Verbindung mit Mecklenburg und Nordelbien. Die „Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland“, so der offizielle Titel, wurde im Mai 2012 gegründet.
So blieb meine Hoffnung, zusammen mit dem Berliner Bischof Wolfgang Huber, dass wir drei, Berlin-Brandenburg, die Schlesische Kirche und die Evangelische Kirche Anhalt, eine Kirche bilden. Mir ging es nicht darum, nur etwas einzusparen. Mein Gedanke war, im Osten als Gegenüber zu den beiden großen Westkirchen auch eine große Ostkirche zu schaffen, die dann mehr Einfluss und Bedeutung hätte.
Wie war das Ergebnis der Überlegungen?
Das Ergebnis war leider, dass die Synode der Anhaltischen Kirche eine Entscheidung herbeiführte, die hieß: Wir wollen allein und eigenständig bleiben und uns nicht an der Neubildung einer Kirche beteiligen.
Die Bezeichnung „Neubildung“ war übrigens ganz entscheidend. Mir war nicht an einer Fusion der Schlesischen Kirche mit der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg gelegen, auch nicht an einem „Anschluss“. Ich wollte, dass wir auf der Ebene der EKU, also der unierten Kirchen, eine große Kirche bilden. Deutlich war ja, dass wir evangelische Christen in der Gesellschaft eine Minderheit sind. Da war es natürlich sinnvoll, eine große Kirche zu bilden. Das bedeutete für mich auch, diesen Prozess mit Bischof Huber auf Augenhöhe zu überlegen und nicht als Bittsteller dazustehen, der fragt: Nehmt Ihr uns? Wir haben deshalb auch die beiden Neubildungsbeschlüsse gleichzeitig gefasst, in denen es in den ersten Artikeln heißt: dass wir eine evangelische Kirche Ost bilden. Und nichts von Anschluss oder Fusion.
Aus zwei Kirchen eine machen – wie geht das?
Es stand die Frage: Wie macht man das eigentlich, dass zwei Kirchen aufhören zu existieren und eine neue entsteht. Für uns Theologen war es kein theologisches Problem, aber für die Juristen war es ein juristisches Problem. Ich finde es immer noch faszinierend, wie wir das gelöst haben: Am 31. Dezember 2003 um 24 Uhr hörten beide Kirchen auf zu existieren und am 1. Januar 2004 um 0 Uhr starteten wir die neue Kirche. Somit gab es keine Sekunde keine Kirche. Das hat es so noch nicht gegeben. Wir hörten beide gemeinsam auf und begannen beide mit etwas Neuen. Das zeigt auch, dass es kein Anschluss und keine Fusion war.
Es gab auch viele Kritiker dieser Kirchenneubildung. Sie haben bei ihrer Festrede auf der Synode gesagt, man hätte die kritischen Stimmen und die vielen Verletzungen, die damit verbunden waren, deutlicher wahrnehmen und berück- sichtigen sollen. Wie kommen Sie jetzt zu dieser Einschätzung?
Wir begehen jetzt das Jubiläum 20 Jahre EKBO. In vielen Gesprächen habe ich gemerkt: Wir haben einige Leute überfahren und sie nicht mitgenommen in den Prozess einer Neubildung. Sie hatten Angst, dass wir geschluckt würden. Bis heute kann man den Kritikern kaum vermitteln, dass die Maus mit dem Elefanten auf gleicher Ebene miteinander redet und eine Neubildung stattgefunden hat. Sondern viele denken immer noch: Das ist ein Anschluss gewesen.
Ist Ihrer Meinung nach in der praktischen Umsetzung deutlich geworden, dass das Zusammenfinden beider Kirchen eine Neubildung war und kein Anschluss?
Ja, das war in der Praxis so. Als zum Beispiel die Kirchenleitung beschlossen hat, dass mein Nachfolger im Sprengel Görlitz, Hans-Wilhelm Pietz, den Titel Regionalbischof bekommt und nicht Generalsuperintendent. Auch heute wird wieder überlegt, ob man nicht die Bezeichnung Generalsuperintendent oder Generalsuperintendentin ablegen und stattdessen den Titel Regionalbischof wählen sollte. Das war damals schon unser Gedanke. Ein anderes Beispiel: Dass unser Präses der Synode der EKSOL, der verstorbene Bürgermeister von Reichenbach, Andreas Böer, Präses der neuen Kirche wurde, ist auch ein Zeichen, dass wir mit aufgenommen wurden. Und schließlich sind die verschiedenen Kirchenkreise hier im Laufe der Jahre zu einem schlesischen Kirchenkreis geworden, der auch so heißt. Das zeigt ja auch: Es ist kein Berlin-Brandenburgischer Kirchenkreis, sondern der schlesische Kirchenkreis.
Woran zeigt sich für Sie die Kirchenneubildung auf Augenhöhe außerdem?
Die drei schlesischen Organisationen konnten bestehen bleiben und sind aktiv: die Gemeinschaft evangelischer Schlesier e.V., der Verein für Schlesische Kirchengeschichte und die Kirchliche Stiftung Evangelisches Schlesien. Sie sind von der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg anerkannt worden. In der neu gebildeten Kirche gibt es ein eigenes schlesisches Erbe, das kulturgeschichtlich und religionsgeschichtlich mit ganz viel Reichtum aus dem Mittelalter erhalten ist. Wir haben beispielsweise im Eröffnungsgottesdienst der Landessynode in der Frauenkirche ein Lied eines Schlesiers gesungen. „Tut mir auf die schöne Pforte“ ist ein schlesisches Lied von dem schlesischen Dichter Benjamin Schmolck (1672–1737).
Was genau ist das schlesische Erbe, das die schlesische Kirche mit eingebracht hat?
Das ist eine bestimmte Frömmigkeit aus der Gemeinde heraus, so wie das Bischof Huber in seiner Predigt im Eröffnungsgottesdienst der Frühjahrssynode sagte: Man lebt mit der Bibel, aber nicht wortwörtlich, sondern versucht in den Texten immer neue Überraschungen zu finden. Das hat man durch die Geschichte hindurch gemacht. Ein herausragendes Beispiel dafür ist Dietrich Bonhoeffer. Der Theologe der Bekennenden Kirche ist Schlesier, geborener Breslauer. Wie er die Bibel fromm gelebt hat, sie ausgelegt hat und dass heute noch Texte von ihm verwendet werden – das ist dieses schlesische Erbe. Auch der Liederdichter Jochen Klepper ist in der Nähe von Breslau groß geworden. In Breslau hat er angefangen Theologie zu studieren, ist dann Schriftsteller geworden und später nach Berlin gegangen. Breslau und Berlin waren Wechselstädte. Da zeigt sich, dass es früher schon eine Verbindung gab. So neu ist das gar nicht. Das ist für mich alles schlesisches Erbe. Dazu nenne ich den Dichter Joseph von Eichendorff (1788-1857). Eine reiche Geistesliteratur, die heute immer noch in Deutschland eine Rolle spielt, kommt aus Schlesien.
Würden Sie sagen, diese Kirchenneubildung war eine Erfolgsgeschichte? Oder ist etwas offengeblieben?
Ich würde nicht von Erfolg reden, weil das für mich kein theologischer Begriff ist. Aber es sind ganz viele Hoffnungen von mir umgesetzt worden. Und ich freue mich darüber, dass die Kirche nicht stehengeblieben, sondern gewachsen ist. Und das war nicht vergeblich. Wir konnten einiges erreichen.
Ich halte ganz viel davon, dass wir nicht von einem Glaubensstandpunkt reden. Wir sind in unserer Glaubensgeschichte nicht feststehend, sondern ein wanderndes Gottesvolk. Dieses Wandern bedeutet Veränderung. Wir müssen dazu bereit sein, entsprechend den gesellschaftlichen Gegebenheiten. So wie das jetzt hier in dem schlesischen Kirchenkreis auch gefordert wird. Aber genauso auch in der Prignitz, der Uckermark oder in Berlin. Wir dürfen nicht stehenbleiben.
Musste die Schlesische Kirche auch etwas aufgeben?
Wir haben keine Evangelische Akademie mehr halten können. Wir mussten die Tagungsstätte Kreuzbergbaude aufgeben. Wir haben keinen eigene Kirchenmusikschule mehr. Aber es ist nicht verloren gegangen. Das, was wesentlich ist, ist in einer neuen Kirche aufgenommen worden. Wesentlich sind für mich die Kontakte nach Osteuropa und nicht nach Westen hin. Sie sind weiter forciert worden. In Frankfurt (Oder) und Slubice finden vom 7. bis 9. Juni wieder die Christlichen Begegnungstage der Mittel- und Osteuropäischen Kirchen statt. Und dass die Gemeinden in der EKBO bereit sind, miteinander zu leben und sich miteinander auszutauschen. Das ist für mich ganz entscheidend.
Zur Person: Klaus Wollenweber war von 1995 bis 31. Dezember 2003 Bischof der Evangelischen Kirche der Schlesischen Oberlausitz. Von Januar bis Mai 2004 war er gemeinsam mit Wolfgang Huber Bischof der neu gebildeten Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO). Im Juni 2004 ging er in den Ruhestand. 1939 geboren in Krefeld, war er bis 1988 Gemeindepfarrer in Bonn. Von 1988 bis 1995 war er theologischer Oberkirchenrat in der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union (EKU) in Berlin. Er war unter anderem Leiter der Berliner Bibelwochen und der Pfarrerstudientagungen der EKU in Berlin. Am 5. Mai wird Klaus Wollenweber 85 Jahre alt.