Der Autor, Lebenskünstler und Alt-68er Rainer Langhans hat als Mitbegründer der berühmtesten Wohngemeinschaft Deutschlands, der West-Berliner „Kommune 1“, einige Erfahrung mit Lebens- und Wohnformen abseits gesellschaftlicher Normen. Wohnungslosigkeit hat der heute 84-Jährige aber noch nicht erlebt. Dennoch hat ihn die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen für diesen Freitag (2. August) zu ihrer bundesweiten Tagung ins niedersächsische Freistatt bei Diepholz eingeladen, um mit den Teilnehmenden über einen gesellschaftlichen Wertewandel zu diskutieren.
Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) verrät Langhans, was ihn mit dem Thema verbindet – und warum er glaubt, dass das Leben auf der Straße nicht nur Ausdruck von Not, sondern auch Protest gegen die Gesellschaft sein kann.
epd: Herr Langhans, Sie sind bereits zum zweiten Mal eingeladen, bei einem bundesweiten Treffen von wohnungslosen Menschen über gesellschaftliche Werte und ihre Veränderbarkeit zu diskutieren. Woher kommt diese Verbindung? Hatten Sie selbst mal mit dem Thema Wohnungslosigkeit zu tun?
Rainer Langhans: Nein, weder persönlich noch über mein näheres Umfeld. Deshalb war ich ja zunächst auch so perplex, dass die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen mich zu Ihrer Tagung eingeladen hat. Ich bin da ganz offen hingefahren. Ohne irgendeine Botschaft, die ich rüberbringen wollte, sondern mit einer Frage: Warum habt ihr euch in einem Land, in dem eigentlich niemand auf der Straße leben muss, dazu entschieden, es trotzdem zu tun?
Mich interessiert, ob es neben dem Offensichtlichen, das in die Obdachlosigkeit führen kann – Armut, Lebenskrisen, Sucht, psychische Erkrankungen – womöglich eine mehr oder weniger bewusste Entscheidung gibt, dieses Leben zu wählen. Vielleicht, weil das Gefühl da ist, nicht reinzupassen in die etablierten Strukturen. Womöglich ist Obdachlosigkeit nicht nur Folge einer Not, sondern auch als Protest gegen die Gesellschaft zu verstehen. Und wenn das so sein sollte: Wie kann dieser Protest erkennbar und politisch wirksam werden?
Und natürlich nehme ich auch eine zweite Frage mit zu der Tagung: Warum wollt ihr ausgerechnet mit mir über gesellschaftliche Werte reden?
epd: Haben Sie eine Vermutung, warum?
Langhans: Sicher besteht eine gewisse Nähe, weil ich selbst in relativer Armut lebe. Ich halte meine materielle Beteiligung an dieser Gesellschaft klein. Mein Obdach ist ziemlich bescheiden, und ich habe kaum Rente, weil ich ja nie geregelt gearbeitet habe. Es reicht für das Nötigste. Aber natürlich wird das nicht der einzige Grund für die Einladung sein.
.epd: Was denn noch?
epd: Vielleicht bin ich auch deshalb ein interessanter Gesprächspartner, weil ich mich trotz eines Daches über dem Kopf in dieser Gesellschaft weite Strecken meines Lebens selbst fremd, wie ein Obdachloser gefühlt habe. Deswegen haben wir um 1968 ja unser eigenes Ding gemacht. Wir haben etwas erlebt, das uns erfüllt hat, sich wie ein richtiges Leben anfühlte. Voller Liebe, voller Verbundenheit aller mit allem. Also das, was man heute das 68er-Gefühl nennt. Die meisten von uns haben das wahrscheinlich eher intuitiv erlebt und nicht wirklich verstanden, aber das war wirklich eine spirituelle Erfahrung. Alles schien möglich!
Aus dieser Perspektive erschienen uns die Gesellschaft lieblos und die herrschenden Normen eng und rigide – und es war uns völlig unverständlich, warum nicht alle so leben wollten wie wir. Wir standen außerhalb der Mehrheitsgesellschaft – und wollten das auch so.
Mit Blick auf diese eigenen Erfahrungen frage ich mich: Geht es vielen Obdachlosen womöglich ähnlich? Nehmen sie, ohne das vielleicht bewusst formulieren zu können, eine ähnliche Lieblosigkeit in der Gesellschaft wahr, die sie auf Distanz hält? Ist ihr vermeintliches Scheitern an den gängigen gesellschaftlichen Maßstäben womöglich ein unbewusster Ausdruck von Sehnsucht nach diesem richtigen Leben?
epd: Sie sprachen davon, dass Obdachlosigkeit auch politisch zu verstehen ist und politisch wirksam werden soll. Wie soll das gehen?
Langhans: Für mich hängt diese politische Dimension an der Frage: Warum fügt ihr euch nicht in diese Form von Obdach, die euch die Gesellschaft anbietet? Was ist euch daran nicht gut genug? Ich habe die Hoffnung, dass wir in unserer Diskussion über sicher wichtige Fragen aus dem Alltag Wohnungsloser – etwa die prekäre Situation in den Unterkünften oder Gewalterfahrungen auf der Straße – hinausgehen und darüber sprechen, in welchen Verhältnissen, in welcher Welt wir eigentlich leben wollen. Wie müsste unsere Welt beschaffen sein, damit Obdachlosigkeit manchen Menschen nicht mehr wie eine bessere Alternative zum Leben im gesellschaftlichen Mainstream erscheinen muss?