Als vor 80 Jahren der Zweite Weltkrieg endete, lag ein großer Teil des Planeten in Trümmern. 70 bis 85 Millionen Tote waren zu beklagen. So viele, als hätte man Frankreich und Italien zusammen von der Landkarte getilgt. So gewaltig waren die Erfahrungen von Schuld und Zerstörung, dass in Deutschland im Laufe der folgenden Jahrzehnte die Auffassung entstand, künftig eine besondere Verantwortung für den Frieden zu tragen: Nie wieder Krieg.
Eine Armee ist notwendiges Übel
In Westdeutschland setzten die Alliierten zunächst auf vollständige Entmilitarisierung. Erst mit dem Ausbruch des Kalten Krieges und der Bedrohung durch die Sowjetunion wuchs der Druck zur Wiederbewaffnung. Die Gründung der Bundeswehr 1955 und die Einführung der Wehrpflicht 1956 führten zu Spannungen – es setzte sich die Ansicht durch, eine Armee sei ein „notwendiges Übel“ zur Verteidigung.
Soldaten sollten „Staatsbürger in Uniform“ sein, politische Bildung und demokratische Kontrolle standen im Vordergrund. Dennoch zeigte sich an vielen Stellen der alte Geist des Militarismus. Ab den 60er Jahren und unter dem Eindruck der Friedensbewegung sah die Gesellschaft die Rolle des Militärs in der Gesellschaft dann immer kritischer.
In den 70ern und 80ern waren Uniformen in der Öffentlichkeit geradezu verpönt. Die Bundeswehr zahlte ihren Soldaten ein Handgeld, wenn die sich im offiziellen Gewand zu einer Hochzeit trauten. Dass man überhaupt noch seinen Frieden mit der Kriegstruppe machte, lag daran, dass für ihren Einsatz strenge Regeln galten: Bündnisintegration (NATO), Parlamentskontrolle. Und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung.
Die Nationale Volksarmee verstand sich als “Armee des Friedens”
In der DDR war das Militär von Anfang an grundlegender Teil des sozialistischen Staates. Die Nationale Volksarmee (NVA), hervorgegangen aus der kasernierten Volkspolizei, war ab 1956 das wichtigste Machtinstrument der SED. Etwa zehn Prozent der Erwerbstätigen waren in militärische oder paramilitärische Organisationen eingebunden, militärische Rituale durchdrangen den Alltag von Schule bis Betrieb.
Die NVA verstand sich als „Armee des Friedens“ und als Gegenmodell zur Wehrmacht. Politische Erziehung und die Bindung an sozialistische Werte waren zentral. Die Wehrpflicht wurde 1962 eingeführt, Alternativen wie der Dienst als Bausoldat blieben Ausnahme und waren mit Nachteilen verbunden. Trotz massiver Propaganda war die Akzeptanz in der Bevölkerung oft nur oberflächlich: Viele junge Männer empfanden den Dienst als Belastung, pazifistische Haltungen und Verweigerung wurden hart sanktioniert.
Die USA sollte alle beschützen
Auch in der DDR gab es eine Friedensbewegung. Sie entstand als Reaktion auf die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft, die Einführung des Wehrunterrichts an Schulen, die Stationierung von Atomraketen und die Angst vor einem Atomkrieg. Hauptträger waren Gruppen innerhalb der evangelischen Kirche. Ost und West: Nach der Wiedervereinigung näherten sich die Einstellungen an – geprägt von Skepsis, Zurückhaltung und dem Bewusstsein der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands.
In den folgenden Jahren verlor die Bundeswehr weiter an Bedeutung. Der Kalte Krieg ging zu Ende. Zuhause sah man sich nicht mehr bedroht. Weltweit stand der „große Bruder“ USA bereit, um mit gigantischer Militärmaschinerie seinen Schutzschirm über Verbündete auszuspannen. Wofür brauchte man eigene Soldaten? 2011 setzte der Bundestag die Wehrpflicht aus. Eine deutlich kleinere Berufsarmee sollte für den Fall der Fälle ausreichen.
Mit dem Überfall auf die Ukraine wurde alles anders
Dann kam 2022 der Überfall Russlands auf die Ukraine. Und plötzlich war alles anders. Mag es auch unterschiedliche Interpretationen über Gründe und Ziele dieses Angriffs geben, die damit verbundene „Zeitenwende“ markiert eine tiefgreifende Veränderung im öffentlichen Bewusstsein. Zwar hatte es schon 1999 mit dem Balkankrieg und den darauf folgenden Auslandseinsätzen in Afghanistan eine Verschiebung im Selbstverständnis der Bundeswehr gegeben („Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“).
Aber nun erschien der Krieg vor der eigenen Haustür. Die Bedrohung der europäischen Friedensordnung, die Unsicherheit über die Verlässlichkeit der amerikanischen Sicherheitsgarantie unter Präsident Donald Trump und die Notwendigkeit, die eigene Verteidigungsfähigkeit zu stärken, führten zu einer historisch hohen Zustimmung zur Bundeswehr. Nach einer Studie von 2023 wollen 86 Prozent der Bevölkerung die Bundeswehr stärken, 57 Prozent die Verteidigungsausgaben erhöhen. Und damit verbunden taucht auch wieder die Frage auf: Muss Deutschland die allgemeine Wehrpflicht wieder einführen?
Kirche war ein Ort des Protests
Und die Kirche? In der DDR war die evangelische Kirche das Rückgrat der unabhängigen Friedensbewegung und der Wehrdienstverweigerer. Sie bot Schutzräume für oppositionelle Gruppen, organisierte Friedensgebete und unterstützte Bausoldaten sowie andere Verweigerer. Symbole wie „Schwerter zu Pflugscharen“ und Aktionen wie der „Berliner Appell“ gingen maßgeblich von kirchlichen Kreisen aus. Die Kirche war somit ein zentraler Ort für Protest, Vernetzung und gewaltlosen Widerstand gegen Militarisierung.
Auch in der BRD setzte sich die evangelische Kirche früh und dauerhaft für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ein, bot Beratung und Fürsprache für Verweigerer und engagierte sich in der Friedensbewegung, etwa bei den Ostermärschen. Sie blieb eine kritische Stimme gegenüber Aufrüstung, unterstützte aber die Wehrpflicht und die Bundeswehr als gesellschaftlichen Kompromiss – stets mit Betonung auf Gewissensfreiheit, Zivildienst und Abrüstung.
Derzeit ringt die evangelische Kirche um ihre Haltung zu Militär und Wehrdienst. Während etwa Bernhard Felmberg, Militärbischof der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), eine schrittweise Rückkehr zur Wehrpflicht befürwortet, lehnt Friedrich Kramer, Landesbischof der Kirche in Mitteldeutschland und Friedensbeauftragter der EKD, Aufrüstung und Waffenlieferungen ab. Er betont gewaltfreie Konfliktlösung und die Tradition der Friedensarbeit.
Margot Käßmann, ehemalige EKD-Ratsvorsitzende und noch immer prominentes Gesicht der evangelischen Kirche, ist noch strikter. Sie vertritt eine konsequent pazifistische Position, lehnt Aufrüstung und Wehrpflicht ab, plädiert für Stärkung von Friedens- und Freiwilligendiensten.
Jesus steht für radikale Gewaltlosigkeit und Feindesliebe
Die evangelische Friedensethik steht in einer grundlegenden Spannung: Einerseits gilt Jesus vielen als Vorbild radikaler Gewaltlosigkeit und Feindesliebe, andere sehen angesichts von Bedrohungen die Notwendigkeit, die Verteidigungsbereitschaft zu stärken. Diese Diskussion müsse offen und respektvoll geführt werden, so die EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs. Sie betont, dass es in der Friedensethik selten ein eindeutiges „richtig“ oder „falsch“ gibt, sondern dass sich die Kirche in Dilemmata, in Zwickmühlen, bewegt und von Fall zu Fall verantwortungsvolle Abwägungen treffen müsse.