In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts haben sich zwei große theologische Traditionen entwickelt: die lutherische und die reformierte (auch calvinistische genannt). Die reformierte Konfession verbreitete sich von den Städten Zürich, Basel, Straßburg und Genf überwiegend im Süden und im Westen; die lutherische strahlte von Wittenberg vor allem in den Norden und den Osten aus.
Der Kampf um die religiöse Oberhoheit in einem Gebiet wurde in der folgenden Zeit auch mit kriegerischen Mitteln geführt, bis sich mit dem Ende des 30-jährigen Kriegs 1641 allmählich eine stabile Ordnung etablieren konnte. Für Westfalen und Lippe folgt daraus: Die Gebiete Wittgenstein, Siegen und Tecklenburg sowie Lippe sind überwiegend reformiert geprägt, Ostwestfalen und das heutige Ruhrgebiet weitgehend lutherisch. Blickt man über Deutschland hinaus, so sieht man einen hohen reformierten Bevölkerungsanteil etwa in der Schweiz, den Niederlanden, Ungarn, Schottland, den USA, Kanada und Südafrika. Weltweit gehören rund 74 Millionen Menschen einer lutherischen und rund 80 Millionen Menschen einer reformierten Kirche an.
Heute werden eher die Gemeinsamkeiten betont
Heute werden die Gemeinsamkeiten der beiden Richtungen betont. Jahrhundertelang beharrte man aber auf den Unterschieden. Streitpunkte zwischen der lutherischen und der reformierten Seite waren vor allem das Abendmahlsverständnis, die Frage nach der Prädestination (Vorherbestimmung zum Heil oder zur Verdammnis) und die Frage nach dem Verhältnis von göttlicher und menschlicher Ordnung (Zwei-Reiche-Lehre).
Martin Luther machte seine Lehre von der Rechtfertigung durch den Tod Christi auch am Abendmahl fest. Er wandte sich vor allem gegen die im Mittelalter verbreitete Meinung, dass die Eucharistie ein Opfer sei, das zusätzlich zum Opfertod Christi vollzogen würde. Diese Interpretation stellte nach Luthers Meinung die Bedeutung des Abendmahls auf den Kopf: Es ist Christus, der sich selbst in Brot und Wein gibt; keineswegs kann umgekehrt die (katholische) Kirche Gott etwas geben, indem sie Christus in Brot und Wein vor Gott „opfert“. Das würde das Abendmahl zu einem „guten Werk“ machen, und damit kann sich bekanntlich niemand selbst vor Gott gerecht machen.
Trotzdem hielt Luther daran fest, dass Christus selbst im Abendmahl gegenwärtig ist. Zwar nicht in der materiellen Umwandlung von Leib in Brot und Blut in Wein, wie die katholische Kirche lehrte; Christus ist aber „in, mit und unter“ Brot und Wein, also in einer geistlichen Weise anwesend – unabhängig vom Glauben derer, die das Abendmahl feiern.
Der Züricher Reformator Huldrych Zwingli dagegen hatte eine mehr rationale Herangehensweise. Er sah das Abendmahl als ein Gedächtnismahl, bei dem sich die Gemeinschaft der Glaubenden an den erlösenden Kreuzestod Jesu Christi erinnert. Die Gemeinde ist dabei der wahre Leib Christi; die Elemente Brot und Wein sind rein symbolisch zu verstehen. Die Einsetzungsworte „Das ist mein Leib“ (lateinisch: „Hoc est corpus meus“) deutete Zwingli um in „Das symbolisiert meinen Leib“ („Hoc significat corpus meus“). Weder die eine noch die andere Formulierung lässt sich biblisch belegen; in den griechischen Urschriften der Evangelien fehlt das Verb schlicht. Trotzdem war der Streit um das „est“ oder „significat“ der äußere Grund dafür, dass die Diskussion um das Abendmahlsverständnis zwischen Luther und Zwingli 1529 ohne Einigung abgebrochen wurde.
Der andere große reformierte Reformator Johannes Calvin hatte eine vermittelnde Position. Er verstand die Gegenwart Christi in den Abendmahlselementen Brot und Wein als „Spiritualpräsenz“, als Gegenwart im Heiligen Geist.
Fast 500 Jahre lang kein gemeinsames Abendmahl
In Folge der gegenseitigen Verwerfungen war ein gemeinsames Abendmahl von Lutheranern und Reformierten fast 500 Jahre lang nicht möglich. Erst die Leuenberger Konkordie ermöglichte 1973 die Abendmahlsgemeinschaft.
Ein weiterer Unterschied zwischen der lutherischen und speziell der calvinistischen Theologie ist die Lehre von der Prädestination. Dabei geht es um die unbedingte Souveränität Gottes, der den Menschen das Heil allein aus eigenem Antrieb zukommen lässt. Luther wie Calvin betonen, dass der Mensch nichts leisten kann und muss, um dieses Heil zu erlangen. Bei Calvin ist dieser Gedanke jedoch besonders zugespitzt: Seiner Ansicht nach bestimmt Gott die einen zum Heil, die anderen aber zu ewiger Verdammnis (doppelte Prädestination). Allerdings führt Calvin das Problem derer, die dann auf der Verliererseite stehen, nicht weiter aus. Für ihn dient die Lehre von der ewigen Vorherbestimmung vor allem dazu, die Gläubigen zu stärken und ihnen die Angst zu nehmen, dass sie die Erwählung auch wieder verlieren könnten.
Obwohl der Einzelne an seinem Platz im Heilsplan Gottes also nichts ändern kann, spielt das Leben nach den Geboten Gottes, die „Heiligung“, in der reformierten Frömmigkeit eine große Rolle. Schon im irdischen Leben könne man die Erwählung Gottes ablesen, so die Meinung der Calvinisten. Im Umkehrschluss hieß das: Wer gottesfürchtig und (wirtschaftlich) erfolgreich ist, der ist folglich wohl erwählt. Der Soziologe Max Weber fand in dieser calvinistischen Wirtschaftsethik eine der Wurzeln des modernen Kapitalismus. Heute sind die meisten reformierten Kirchen von der strengen Prädestinationslehre abgerückt.
Schließlich liegt noch ein deutlicher Unterschied bei dem Verhältnis von göttlichem und weltlichem Herrschaftsbereich. Martin Luther unterschied einen göttlichen und einen weltlichen Herrschaftsbereich. Im Reich Gottes leben die, die durch die Rechtfertigung erlöst sind; sie sind aber gleichzeitig Untertanen des weltlichen Bereichs, in dem Kirche und Staat als zwei Regimenter regieren, und müssen sich ihren Gesetzen beugen. Die weltliche Ordnung ist gottgegeben. Solange sie nicht zur Sünde zwingt, muss man ihr gehorchen; wenn sie jedoch dem Nächsten schadet, sollte man Widerstand leisten. Für den Bereich des Glaubens ist allein die Kirche zuständig.
Zwingli und Calvin dagegen wollten die „Königsherrschaft Christi“ in allen Bereichen des weltlichen Lebens durchgesetzt wissen. Eine Trennung in geistliche und weltliche Sphäre sollte es nicht geben; alle Ordnung sollte göttliche, von der Bibel bestimmte Ordnung sein. Die weltliche Herrschaft sollte dazu dienen, diese göttliche Ordnung durchzusetzen, notfalls auch mit Gewalt.
Auswirkungen auf die Haltung zur Politik
Luthers Lehre wurde im Laufe der Zeit als eine Trennung des Lebens in zwei Bereiche missgedeutet: Christen sollten sich nach dieser Interpretation in den Privatbereich zurückziehen und den Bereich der Politik seinem Lauf überlassen; jede Form von Herrschaft, auch Unrechtsherrschaft bis hin zu den Auswüchsen der Hitler-Diktatur, wurde als gottgegeben verstanden. Der reformierte Theologe Karl Barth, der maßgeblich die Barmer Theologische Erklärung der Bekennenden Kirche mitverfasst hat, kritisierte diese Traditionslinie scharf. Seine Ansicht nach soll sich menschliches Recht am göttlichen orientieren. Kirche muss damit politisch sein und versuchen, den irdischen Staat im Sinne des göttlichen Rechts umzugestalten.