Glitzer-rosig, nichts als Kitsch? Mitnichten. Das Einhorn ist ein uraltes Fabelwesen, nicht nur flauschiger Kommerz auf dem Kopfkissen im Kinderzimmer. Im Mittelalter bestand kein Zweifel an seiner Existenz.
Wer im Jahr 2023 etwa in Köln oder Darmstadt an einer Einhorn-Apotheke vorbeischlendert, mag sich über den mythischen Namen wundern: Dabei zeugt er davon, dass das Tier mit dem gewundenen Horn auf der Stirn schon vor tausenden von Jahren in der Vorstellung vieler Menschen etwas ganz Besonderes war. Noch im Mittelalter bestand kein Zweifel an seiner Existenz. Seinem zerstoßenen Horn wurden Heilkräfte zugeschrieben. Eine Spanschachtel mit vermeintlichem Einhornpulver aus dem 18. Jahrhundert kann noch heute im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg bestaunt werden.
Die lange Geschichte des Fabelwesens nahm in der Antike ihren Ausgangspunkt. Darüber haben Bernd Roling, Professor für Mittel- und Neulatein an der Freien Universität Berlin, und Julia Weitbrecht, Professorin für Ältere deutsche Sprache und Literatur an der Universität zu Köln, jüngst ein Buch geschrieben – “die Geschichte einer Faszination”, wie es im Untertitel heißt.
Einhörner auf T-Shirts, Kondompackungen oder als Geburtstagskuchen: Das viel bewunderte Tier wird nicht nur gewinnbringend vermarktet, sondern auch pädagogisch genutzt. So manche Grundschullehrerin bedient sich im Unterricht, um sofort für Ruhe zu sorgen, statt des “Schweige-Fuchses” (geballte Faust mit raus gestrecktem kleinen Finger und Zeigefinger) des “Schweige-Einhorns” (geballte Faust mit raus gestrecktem kleinen Finger, Mittelfinger und Daumen). Und auch in der Esoterik wird es als die Verkörperung des Guten verehrt.
Seit den 1980er Jahren tritt das Tier zudem als Maskottchen der Pride-Bewegung auf. Dies hänge sicherlich “mit dem breiten Spektrum an Farben und Formen zusammen, das die diverse Welt der Einhörner ausmacht – und mit dem spielerischen Element, sich auszuprobieren”, so Weitbrecht und Roling.
Antike Zoologie sei immer eine Mischung aus exakter Wissenschaft und dem Bestreben gewesen, das Publikum zu unterhalten, betonen die Wissenschaftler. Wesentlichen Anteil am Erfolg des Einhorns hat demnach der Mediziner Ktesias von Knidos (um 500 v. Chr.), der von Einhörnern in Indien berichtete: Sie sollen weiß mit rotem Kopf und blauen Augen gewesen sein, wild, schnell und kräftig. Und schon damals wurde dem Horn eine heilende Wirkung zugeschrieben.
Das christliche Mittelalter bezog sein Wissen über die Welt maßgeblich aus den antiken Quellen. “Man ging somit davon aus, dass diejenigen Spezies, die die Enzyklopädien bevölkern, auch Teil der Heilsgeschichte sind: Neben Wolf, Lamm und Löwe bewohnt daher auch das Einhorn das Paradies, wie man in zahlreichen Abbildungen sieht”, so Roling und Weitbrecht.
Und wie fängt man ein Einhorn ein? Im vierten Band von Rowlings “Harry Potter” heißt es, dass dies am besten einer Frau gelingen könne: “‘Jungen zurückbleiben!’, bellte Professor Raue-Pritsche, und ihr ausgestreckter Arm traf Harry hart an der Brust. ‘Sie ziehen die Hand einer Frau vor, diese Einhörner.'”
Eine Vorstellung, die sich bereits im “Physiologus” findet, einem frühchristlichen Volksbuch aus dem 2. Jahrhundert (n. Chr.). Dies hatte zur Folge, dass die Darstellung von Maria mit dem Einhorn ein beliebtes Bildmotiv auf Gemälden oder Wandteppichen in Kirchen wurde. Dazu zählt etwa auch das aus dem 15. Jahrhundert stammende “Einhorn-Retabel” – ein Altaraufsatz mit Einhornmotiv – im Erfurter Dom.