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Zwischen Angst und Artenschutz – Der Wolf in Märchen und Realität

Großmutter gefressen, Schafe gerissen. Der Wolf bleibt ein Reizthema – im Märchen wie im Alltag. Zwischen Romantisierung und Abschussforderung ist das Tier nicht nur in Brandenburg längst zur Herausforderung geworden.

“Aber, Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul!” – “Dass ich dich besser fressen kann!” Der böse Wolf verschlingt erst die Großmutter und dann das “arme Rotkäppchen”. Davon handelt eines der wohl berühmtesten Märchen der Brüder Grimm. Auch vor sechs jungen Geißlein macht der Wolf in einer anderen Erzählung nicht Halt.

“Der Wolf ist im Märchen ein hochinteressantes Tier”, sagt Märchenforscherin Ingrid Jacobsen. Neben dem Fuchs sei der Wolf das Tier, das am häufigsten in Märchen vorkomme. Aus diesem Grund sammelte Jacobsen Märchen zu Wölfen und stellte diese in einem Buch zusammen. Darin ist der Wolf längst nicht immer der Böse: Er wird auch oft als dumm dargestellt, als einer, der sich rasch überlisten lässt. So endet etwa das Märchen von Rotkäppchen mit einer List. Und der Wolf, der sechs der sieben jungen Geißlein verspeiste, stellt sich auch nicht sehr geschickt an, als er mit schweren Steinen im Magen in den Brunnen stürzt und “jämmerlich ersaufen” muss.

Und dann gibt es noch den helfenden Wolf, etwa in einem russischen Märchen, in dem sich der Wolf verwandelt und einen jungen Zarensohn sogar wieder zum Leben erweckt. In der weltbekannten Sage über die Gründung der Stadt Rom ist es eine Wölfin, die die ausgesetzten Kinder Romulus und Remus aufnimmt und säugt, und Mogli aus dem “Dschungelbuch” hätte ohne Wölfe ebenfalls kaum eine Chance gehabt.

Märchen verstärken also nicht nur die Angst vorm Wolf. Sie zeigen ihn auch als Vorbild – etwa bei der Jagd oder bei der Aufzucht von Jungen, erklärt Jacobsen. Der Mensch sehe den Wolf oft aber als Rivalen. Dass der Wolf in Märchen lächerlich gemacht werde, sei Ausdruck von Angst, die sich so bezähmen lasse.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute? Für Jens Schreinicke ist der Wolf mehr als eine Märchenfigur – eine reale Bedrohung für sein Weidevieh. Schreinicke ist Wolfsbeauftragter des Landesbauernverbands Brandenburg. Von 209 Wolfsrudeln in Deutschland zum Stichtag 30. April 2024 lebten laut Bundesamt für Naturschutz 58 in Brandenburg. Der Wolf bereitet Schreinicke und vielen seiner Kollegen große Sorge.

Laut der Umweltstiftung WWF Deutschland haben die rund 1.600 Wölfe von Mai 2023 bis April 2024 etwa 5.700 Schafe und andere Nutztiere gerissen. “Da muss man idealistisch sein, um das weiterzuführen. Viele machen’s nicht”, berichtet Schreinicke von Kollegen, die ihre Herden aufgeben. Herdenschutzzäune und -hunde allein reichten nicht aus. Der Aufwand sei immens, auch finanziell trotz Unterstützung für die Maßnahmen.

Es gebe einfach Bereiche, in die der Wolf nicht gehöre, sagt er: “Leuten, die dort arbeiten, muss man nicht noch mehr aufbürden.” Die gesetzlichen Regelungen müssten dringend geändert werden – und der Schutzstatus des Wolfes in der Berner Konvention von “besonders geschützt” auf “geschützt” herabgesenkt. Die Staats- und Regierungschefs der EU haben diesem Vorschlag der EU-Kommission jüngst zugestimmt. Anfang Mai soll das Europaparlament ebenfalls über die Neuregelung abstimmen. Danach kann sie in nationales Recht überführt werden. Union und SPD kündigen das in ihrem Koalitionsvertrag bereits an. Darin heißt es: “Wir nehmen den Wolf umgehend ins Jagdrecht auf”.

Eines betont Schreinicke mehrfach: “Es darf Wölfe geben. Aber nicht in der Menge, wie wir sie aktuell vorfinden.” Es gebe viele Gebiete in Brandenburg, in denen der Wolf keinen Schaden verursache. Schwarz-Weiß-Denken helfe nicht weiter, appelliert der Vorsitzende des Kreisbauernverbands Potsdam-Mittelmark. Landwirte seien nicht die Bösen, die grundsätzlich gegen den Wolf seien. Die meisten seiner Kollegen seien durchaus kompromissbereit.

Derweil denkt der Biologe und Theologe Rainer Hagencord beim Wolf zuerst an Artenschutz. Mit Blick auf die weltweite Zahl der Wildtiere sei es wichtig, möglichst viele Arten zu retten. Die biblische Erzählung von der Arche Noah sende die Botschaft, dass jedes Tier wichtig sei. Das weltweite Tierreich an Land bestehe zu etwa zwei Dritteln aus Nutztieren, zu rund einem Drittel aus Menschen und nur zu vier Prozent aus wildlebenden Landtieren, zu denen auch der Wolf gehört. Wo sich Wildtiere ansiedelten, sei das Ökosystem intakt, sagt Hagencord. Die Ausbreitung des Wolfs in Deutschland sei insofern ein gutes Zeichen.

Der Theologe sagt auch: Jedes gerissene Nutztier sei eines zu viel. Aber mit Blick auf die großen Empörungswellen stellt Hagencord fest: “Es scheint kein Mitleid vorhanden für Millionen Nutztiere in den Schlachthöfen.” Der Mensch könne ab morgen vegetarisch oder vegan leben – “diese Freiheit hat der Wolf nicht.”

Der Mensch laufe Gefahr, die Natur zu romantisieren, mahnt Hagencord. Dass ein Wolf andere Tiere reiße, liege in der Natur der Sache. Almwirte in den Alpen hätten in der Vergangenheit einkalkuliert, dass nicht alle Tiere am Ende des Sommers wieder vom Berg zurückkommen. Vielleicht brauche es etwas mehr von dieser Gelassenheit, zumal Landwirte eine Entschädigungszahlung für jedes gerissene Tier erhalten.

Diese Gelassenheit haben Schreinicke und seine Kollegen offenbar nicht mehr. Auch sie warnen vor einer Romantisierung: jedoch besonders vor der des Wolfs.