Von Barbara Eschen
Irgendwo draußen, als Schutz höchstens einen Schlafsack, jederzeit verletzbar – eine schlimmere Lebenslage als Obdachlosigkeit kann ich mir nicht vorstellen.
807 Menschen wurden in der „Nacht der Solidarität“ am 29. Januar bei der ersten Zählung in Berlin so angetroffen. 1169 weitere hielten sich über Nacht in Einrichtungen der Kältehilfe, in U- und S-Bahnhöfen, bei Polizei und Rettungsdiensten auf.
Wie viele Menschen darüber hinaus auf Privatgelände, in Baracken, Kellern, Garagen, auf Baustellen übernachtet haben, wurde nicht erfasst, als 2601 Freiwillige in 615 Zählteams systematisch Berlins Straßen abgelaufen sind und gezählt haben. Denn die Teams gingen nur auf öffentlich zugängliches Gelände und waren verpflichtet, nur Personen anzusprechen, die sich dazu bereit zeigten. Jede dritte Person ließ sich mit einem Bogen in 14 Sprachen befragen: nach Alter, Geschlecht, Nationalität, Dauer der Wohnungslosigkeit und wer mit auf der Straße lebt, auch ob Haustiere dabei sind. 288 Personen äußerten sich.
Die Ergebnisse, ergänzt um solche aus der Befragung in den Unterkünften, werden noch von den Expert*innen in den Bezirken ausgewertet. Schließlich soll der Schutz von Menschen ohne Obdach verbessert werden. Dazu braucht es passende Angebote.
Ein Drittel der draußen angetroffenen Menschen lebt außerhalb des S-Bahnrings, mehr als erwartet. Fast die Hälfte (47 Prozent) hat seit mehr als drei Jahren keine feste Wohnung mehr. Drei Jahre! Menschen leben viel zu lange in diesen prekären Verhältnissen, die ihre Gesundheit und ihr Empfinden für Privatheit zerstören und soziales Miteinander verunmöglichen. Obdachlosigkeit und der Notbehelf Kältehilfe – damit kann man sich nicht abfinden!
Unser Grundgesetz enthält in Artikel 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip einen Anspruch auf Existenzsicherung. Danach haben Wohnungslose einen Anspruch nicht nur auf die Kostenübernahme einer Wohnung, sondern auch auf Beschaffung einer Wohnung. Zuständig sind in Berlin die Bezirke, die ihren Pflichten da nicht ausreichend nachkommen. Also: Die Menschen haben Rechtsansprüche. Und die Bezirke müssen mit dem Land Berlin schauen, woher sie freie Räume bekommen. Jetzt! Möblierte Zimmer, Ferienwohnungen, ja vorübergehend im Zweifel Hotels – Wohnraum muss kurzfristig zur Verfügung gestellt werden. Wohnraum, nicht nur Übernachtung!
Schwierig ist allerdings die Rechtslage für Personen aus anderen EU Ländern und das waren am 29. Januar 140 Personen. Wenn sie keine Arbeit haben – was allerdings einige durchaus haben -, können sie längerfristige Sozialleistungsansprüche in Deutschland oftmals nicht geltend machen. Deshalb braucht Europa verbindliche, soziale Rechte und deren Umsetzung für alle!
Der Druck auf den Straßen ist riesig, weil Menschen erbarmungslos körperlich und seelisch verelenden. Der Streit darum, wie viele der Betroffenen mit der Zählung erreicht wurden, ist müßig. Abhilfe muss geschaffen werden! Und ich danke allen, die in der Kältehilfe zwischenzeitlich menschlich und materiell Wärme spenden.
Barbara Eschen ist Direktorin des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg.