Westerland. Hecken säumen die kleine Fläche direkt hinter dem Westerländer Deich. Dicht an dicht reihen sich die Holzkreuze, Rosen zieren die kleinen Beete davor. In der Mitte steht ein Gedenkstein. Auf den ersten Blick sieht alles aus wie auf einem gewöhnlichen Friedhof. Aber: Auf den Holzkreuzen hier stehen keine Namen der Toten, stattdessen nur ein Ort und ein Datum. Auf diesem Gottesacker im Herzen von Sylt haben Menschen ihre letzte Ruhe gefunden, die als Wasserleichen an die Strände der Insel angeschwemmt wurden. "Heimatstätte für Heimatlose" steht auf dem weißen Holztor, durch das der Besucher den Ort betritt, der heute zur Touristenattraktion geworden ist.
1854 eröffnet, erinnert der Friedhof an eine Zeit, in der regelmäßig Strandleichen an Norddeutschlands Küsten gefunden wurden. Infolge des zunehmenden Seehandels und der aufkommenden Dampfschifffahrt waren immer mehr Schiffe den Gefahren auf hoher See ausgesetzt, so mancher Seemann ging über Bord. Allein vor der Insel Sylt mit ihrer langgezogenen Küste strandeten manchmal bis zu drei Schiffe am Tag. In früheren Zeiten wurden die angeschwemmten Leichen von den Einheimischen einfach im Sand an der Küste verscharrt. Eine neue Regelung am Anfang des 19. Jahrhunderts sorgte dafür, dass der Staat für ihre – wenn auch oft lieblosen – Begräbnisse bezahlte und eigene Friedhöfe entstanden.
Nur einer wurde identifiziert
So legte Stranddirektor Wulf Hansen Decker auch in Westerland einen Friedhof für Heimatlose an, damals noch weit vor den Toren des Ortes. Weil man nicht wusste, ob es sich um Ungetaufte oder möglicherweise sogar Selbstmörder handelte, sollten sie keinesfalls in geweihter Erde bestattet werden. Das Auffinden und die Beerdigung der Strandleichen waren große Ereignisse für Inselbewohner und Gäste und glichen häufig einem Volksfest. Die Särge wurden aus angeschwemmten Wrackholz gefertigt.
Insgesamt 53 Tote vom Sylter Strand haben auf diese Weise auf dem Westerländer Friedhof anonym ihre letzte Ruhe gefunden. Nur einer, Harm Müsker, wurde identifiziert und mit einem persönlichen Gedenkstein gewürdigt. Am 2. November 1905 wurde der letzte Unbekannte an diesem Ort begraben, 1907 wurde der Friedhof aus Platzgründen offiziell geschlossen.