Am 1. Juli übernimmt Deutschland turnusmäßig für ein halbes Jahr lang die Ratspräsidentschaft in der EU. Was haben wir Europäer davon?
Man darf die Erwartung an eine Ratspräsidentschaft nicht überfrachten. Aber Deutschland ist der wirtschaftlich stärkste Mitgliedstaat. Gerade in krisenhaften Zeitenbesteht natürlich die Hoffnung, dass Deutschland in festgefahrenen Verhandlungen vielleicht die notwendigen Impulse gibt.Wenn es ums Geld geht, mit 27 Mitgliedstaaten und ihren teils sehr unterschiedlichen Interessen und dem Brexit am Firmament, braucht man schon einen erfahrenen Mitgliedstaat, der diese schwierigen Verhandlungen gut moderieren und es schaffen kann, die Staaten auf eine Linie zu bringen.
Wofür?
Jetzt geht es darum, so schnell wie möglich wieder wirtschaftlich auf die Beine zu kommen, die Menschen wieder aus der Kurzarbeit und aus der Arbeitslosigkeit heraus zu bekommen? zumal in Staaten wie Italien und Spanien, die durch die Pandemie besonders heftig getroffen sind. Das kann nur mit entsprechenden Instrumenten gelingen. Dazu gehört der „Mehrjährige Finanzrahmen der EU“, der Ende des Jahres für die Periode 2021 bis 2027stehen muss.
Wie wirkt sich so ein „Mehrjähriger Finanzrahmen der EU“ auf das kirchliche, religiöse und diakonische Leben vor Ort aus?
Viele kirchliche und diakonische Einrichtungen werden mit Fördermitteln aus EU-Geldern ausgestattet. Wenn es uns nicht gelingt, uns über die nächsten sieben Jahre bis zum Ende des Jahres zu verständigen, dann droht eine Förderlücke, weil die aktuellen Förderprogramme dieses Jahres auslaufen. 2019 wurden in Deutschland insgesamt 13 EU-geförderte Projekte unter Beteiligung evangelischer Einrichtungen bewilligt. Darin geht es zum Beispiel um zukünftiges Ehrenamt in Europa oder um Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigung in europäischen Grenzregionen.
Was passiert also, wenn sich die Mitgliedsstaaten nicht bald auf den EU-Haushaltsplan 2021–2027 verständigen?
Wenn das bis Ende des Jahresnicht klappt, dann gibt es kein frisches Geld im EU-Haushalt für wichtige europäische politische Vorhaben, etwa den neuen „Grünen Deal“, aber auch Förderlücken für Projekte, unter anderem solche in kirchlicher Trägerschaft.
Welches Interesse verfolgt die Evangelische Kirche in Deutschland darüber hinaus?
Wie gerade bereits angesprochen: Es darf nicht in Vergessenheit geraten, dass die EU-KommissionAnfang des Jahres einen neuen „Grünen Deal“ vorgeschlagen hat. Die ambitioniertenNachhaltigkeits- und Umweltzieledieses „Deals“ liegen auf der Linie, die die Kirchen unter dem Stichwort „Bewahrung der Schöpfung“ seit Jahren verfolgen. Auch im Bereich der europäischen Sozialpolitik sind gute Initiativenangestoßen worden , zum Beispiel auf dem Weg zu einem „Europäischen Mindestlohn“.
Könnte Migration und Asyl, verbunden mit dem Flüchtlingsdrama an den europäischen Außengrenzen, nachrangig werden?
Das Thema Asyl und Migration wird weiterals wichtiges Thema gesehen. Wir warten jetzt wöchentlich darauf, dass die Europäische Kommission einen lange angekündigten „Pakt für Migration und Asyl“ vorlegen wird. Deutschlands Rolle wird sein, einen Fahrplan zu erstellen, wie man die reformbedürftigen Asylregeln auf EU-Ebene so anpassen kann,dass alle Mitgliedstaaten dahinterstehen und dass Menschen- und Grundrechte der Schutzsuchenden geachtet werden.
Bei der Frage der Verteilung von Flüchtlingen auf EU-Mitgliedstaaten stehen sich zwei Lager ziemlich unversöhnlich gegenüber.
Angesichts der unvereinbarten Positionen zur Verteilung von Schutzsuchenden zwischen den osteuropäischen Ländern und Ländern wie Deutschland und Frankreich sowie den südeuropäischen Länder, die mit der Aufnahme der Flüchtlinge besonders belastet sind ? frage ich mich, wie dieser Widerspruch aufzulösen ist. Äußerungen aus osteuropäischen Ländern wie Polen und Ungarn lassen nichts Gutes erahnen.
Hinzu kommen die verfahrenen Verhandlungen rund um den Brexit des Vereinigten Königreichs.
Die Frage eines „Freihandelsabkommens“ zwischen der EU und Großbritannien berührt viel mehr als „nur“ dieHandelsbeziehungen, sondern es ist – über Nordirland – eine europäische Friedensfrage. Nordirland, dessen Frieden ja auf dem Karfreitagsabkommen beruht, darf nicht wieder komplett von der EU abgeschnitten werden.
Die Wahlbeteiligung zum Europäischen Parlament war im vergangenen Jahr überraschend gut – eine Verpflichtung der europäischen Institutionen, ihre Bürger noch besser zu beteiligen?
Die Kirchen sind Teil der Europäischen Zivilgesellschaft und verstehen sich als überparteiliche Foren der Bürgerbeteiligung. Eigentlich sollte am 9. Mai dieses Jahres, dem Europatag, der Startschuss für eine dezentrale „Konferenz zur Zukunft Europas“unter ausdrücklicher Einbindung der Bürger gewesen sein, um neue Perspektiven für den europäischen Integrationsprozesszu entwickeln. Die Konferenz musste wegen Corona zunächst verschoben werden. Wir als Kirchen hoffen, dass diese Bürgerforen unter der deutschen Ratspräsidentschaft nicht in Vergessenheit geraten. Es geht schließlich darum, die Bürger und ihre Ideen gerade in Krisenzeiten zu konsultieren und zu beteiligen.