Auf dem Weg in den südöstlichsten Zipfel Deutschlands, an der Grenze zu Polen und Tschechien, erscheint am Horizont – ziemlich unerwartet – eine weite Gebirgskette: Das Zittauer Gebirge ist das kleinste Mittelgebirge Deutschlands. Aber auch die laut Guinness Buch der Rekorde größte Museumsvitrine der Welt ist hier zu finden. Darin ist das Zittauer Fastentuch ausgestellt: Eine textile Bilderbibel mit einer erstaunlichen Höhe von 8,20 Metern und einer Breite von 6,80 Metern. In 90 Bildern in zehn Reihen, vereint das Fastentuch alttestamentliche und neutestamentliche Geschichten, von der Erschaffung der Welt bis zum Jüngsten Gericht. Die farbenfrohen Bilder werden jeweils mit einem Reim im Zittauer Akzent erklärt. Fremdenführer, die die Verse vorlesen, lassen dabei gerne das landschaftstypische „R“ rollen.
Fastentücher, vor der Reformation weit verbreitet, verdeckten zwischen Aschermittwoch und Karfreitag Altäre, Reliquien und Kreuze, damit nicht nur der Leib sondern auch das Auge zum Fasten angeleitet wurde. Entstanden ist das Tuch aus dem jüdischen Tempelvorhang.
Das mit Temperafarben auf Leinengewebe bemalte Zittauer Tuch entstand 1472. In der evangelischen St.-Johannis-Kirche nutzte man das Fastentuch lange in seiner liturgischen Funktion. Im Lager des Zittauer Rathauses, das wie die Kirche auf Entwürfe des einzigartigen Baumeisters Karl Friedrich Schinkel zurückgeht, blieb das Fastentuch mehrere Jahrhunderte lang vergessen – seit Martin Luther waren Bilderbibeln als „Gaukelwerk“ verpönt.
Zu sehen ist das Zittauer Fastentuch wieder seit 1999: Es verhängt in seiner liturgischen Funktion den Altar der Kirche zum Heiligen Kreuz, die eigens dafür als Museum gestaltet wurde.
Zittau besitzt noch ein zweites, kleineres Fastentuch. Es entstand 1573 und wird heute im städtischen Museum gezeigt, das früher Franziskanerbrüdern als Kloster diente.
Das Kleine wie auch das Große Zittauer Fastentuch sind die einzigen überlieferten Exemplare ihrer Art in Deutschland und gehören zu den bedeutendsten überhaupt.
Weitere berühmte Fastentücher finden sich in Österreich, Südtirol aber auch im Freiburger Münster, im Museum Religio in Telgte und in der Abteikirche in Marienfeld.
Eine Wiederkehr mit veränderter Zielrichtung erlebte die Tradition 1976, als das katholische Hilfswerk Misereor sein erstes modernes Hungertuch vorstellte. Künstler mit wechselndem kulturellem Hintergrund gestalten den Wandbehang. Dieser stellt meist in der bekannten Form des rasterförmigen Bildaufbaus die Beziehung des Leidens Christi zum Leid in der Welt dar. Viele Gemeinden nutzen seitdem das Hungertuch für die Meditation in der Fastenzeit und darüber hinaus.
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Wiederentdeckung der Fastentücher
Das Misereor-Hungertuch greift eine alte Tradition auf. Fastentücher verhüllten in der Passionszeit das Kreuz – ein „Fasten des Auges“. In Zittau sind gleich zwei Tücher zu bestaunen