Mariann Edgar Budde nahm kein Blatt vor den Mund. Am Tag nach Donald Trumps Vereidigung redete die anglikanische Bischöfin dem neuen US-Präsidenten in der Nationalkathedrale ins Gewissen. “Im Namen unseres Gottes bitte ich Sie, Erbarmen mit den Menschen in unserem Land zu haben, die jetzt Angst haben. Es war ein Appell für mehr Mitgefühl – vor allem für Einwanderer und sexuelle Minderheiten, “von denen einige um ihr Leben fürchten”.
Budde mit Anfeindungen konfrontiert
Trump feuerte prompt verbal zurück: Die “sogenannte Bischöfin” sei lediglich eine “linksradikale Trump-Hasserin”. Budde erhielt Zehntausende Dankesbriefe für ihre Predigt, während Anhänger des America-First-Präsidenten sie in Sozialen Netzwerken kritisierten und verspotteten – darunter namhafte Christen. “Begeht nicht die Sünde der Empathie”, twitterte der christliche Podcaster Ben Garrett. “Diese Schlange ist Gottes Feind und auch eurer.”
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Diese Haltung ist ein Beispiel für eine wachsende Bewegung, die Empathie in der Politik bekämpft. Das Phänomen sei schon seit einiger Zeit auf dem Vormarsch, meint die für den “Guardian” tätige Journalistin Julia Carrie Wong. Laut ihren Recherchen führt eine rechtsgerichtete Allianz einen regelrechten Feldzug gegen dieses Grundprinzip des Christentums. Die Kritik an angeblich schädlichen Formen der Nächstenliebe sei besonders stark unter weißen Evangelikalen zu beobachten. Nach deren Auffassung wirkt übermäßiges Mitgefühl zersetzend auf die Gesellschaft. Dem schließen sich zunehmend rechte US-Katholiken an.
JD Vance: Linke haben Rangordnung auf Kopf gestellt
An vorderster Front steht der zum Katholizismus konvertierte US-Vizepräsident JD Vance. Er rechtfertigte Trumps restriktive Migrationspolitik und dessen Kahlschlag bei in- und ausländischen Hilfsprogrammen mit dem Begriff der “ordo amoris” (Ordnung der Liebe). Geprägt wurde er durch den heiligen Augustinus, der heilige Thomas von Aquin griff ihn ebenfalls auf. Vance ließ kürzlich in einem TV-Interview wissen, wie seine Interpretation lautet: “Du liebst deine Familie, dann liebst du deinen Nachbarn, dann liebst du deine Gemeinschaft und dann liebst du deine Mitbürger in deinem eigenen Land”, so der Politiker. Erst danach könne man sich um den Rest der Welt kümmern. Die extreme Linke habe diese Rangordnung auf den Kopf gestellt.
Elon Musk lobt Anti-Empathie-Bewegung
Während Papst Franziskus Vance für diese Auslegung kritisierte, erntete er Lob von anderen einflussreichen Denkern. Maßgeblicher Fürsprecher der Anti-Empathie-Bewegung ist Tech-Milliardär Elon Musk, der die Trump-Regierung in Sachen Kosteneffizienz berät. In einem Gespräch mit dem Podcaster Joe Rogan sagte er jüngst: Er glaube zwar an Empathie, Menschen sollten sich umeinander kümmern. Aber in der heutigen westlichen Gesellschaft habe man es mit “selbstzerstörerischer Empathie” zu tun. Dies sei ein “fundamentaler Schwachpunkt”, der rücksichtslos ausgenutzt werde. “Ich denke also, Einfühlungsvermögen ist gut, aber man muss es durchdenken und darf sich nicht einfach roboterhaft programmieren lassen”, so Musks Fazit.
Er verwies in diesem Zusammenhang auf den kanadisch-libanesischen Evolutionspsychologen Gad Saad, der die These vertritt, westliche Gesellschaften brächten sich durch eine ungebremste Aufnahme muslimischer Migranten selbst in Gefahr.
Entmenschlichung anderer auf dem Vormarsch
Andere Wissenschaftler und Experten sehen dies völlig anders und verfolgen den aufkeimenden Anti-Empathie-Trend mit großer Sorge. Sie habe noch nie erlebt, dass eine Tugend derart in Verruf gebracht worden sei, sagt zum Beispiel Susan Lanzoni, Autorin von “Empathy: A History”. Sie wirft den Wortführern der Bewegung vor, eine “Erlaubnisstruktur zur Entmenschlichung anderer zu schaffen”.
Der Politologe John W. Compton, Autor des 2020 erschienenen Buches “Das Ende der Empathie”, hat sich ebenfalls eingehend mit der Thematik befasst – speziell mit Blick auf weiße Protestanten in den USA. Das Ergebnis seiner Analyse: Bereits in den 1970er Jahren habe der Evangelikalismus seinen Schwerpunkt auf persönliche Erlösung verlagert, ganz im Sinne der protestantischen Mittelschicht. Für Sorgen um die Nöte der weniger Glücklichen sei damit kaum noch Platz gewesen.