Thilo Mischkes ProSieben-Reportage “Radikale Christen und ihr Griff nach der Macht” zeigt eine globale, in Deutschland wenig beachtete Bewegung, die durch Gottesdienste wie durch soziale Medien wächst.
Wenn in einem englischsprachigen Gottesdienst mit enthusiastischen, vor allem jungen Leuten viele plötzlich den Heiligen Geist verspüren und auf dem Höhepunkt des Abends Dämonen ausgetrieben werden, was sich in Schreien Bahn bricht, mit dem die vermeintlichen Dämonen aus den Körpern der Betroffenen entfahren – dann befindet man sich wohl in den USA, oder? Nein, in Lörrach, im tiefsten deutschen Südwesten findet der Gottesdienst der Freikirche “Awakening Europe” statt. Der ist nicht einmal kostenlos, der Eintritt liegt bei stattlichen 85 Euro.
Mitten in der enthusiasmiert singenden Menge in Lörrach steht Reporter Thilo Mischke, der sich selbst als “Atheisten-Ultra” bezeichnet, und sagt in seine Kamera, dass das Konzept “funktioniert”, dass es “so fröhlich, so warm” sei, dass auch er “Gänsehaut bekomme”.
Am 28. Oktober geht es bei ProSieben zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr um “Radikale Christen und ihren Griff nach der Macht”. Mischke, Vorzeige-Reporter des Privatfernsehens, ist an den kommenden Montagen mit gleich zwei langen neuen Reportagen auf ProSieben vertreten. In der Woche darauf fragt er am 4. November, also einen Tag vor den US-amerikanischen Wahlen, unter dem Titel “Forrest Trump: Wie viel ist noch übrig vom American Dream?”.
Auch für die Glaubens-Reportage war Mischke in den USA unterwegs – und insgesamt sogar auf drei Kontinenten. Doch ihren Schwerpunkt hat sie in Deutschland, denn auch hierzulande haben radikale freikirchliche Christen viel jungen Zulauf. Das zeigt der Film mit allerhand Videos, die “Christfluencer” für Plattformen wie Instagram und YouTube produzieren und darin zum Beispiel erklären, “warum Du durch Yoga Dämonen bekommst”.
“Je einfacher die Message, desto besser kommt es an”, sagt die aus einer fundamentalistischen Freikirche ausgestiegene Influencerin Daniela-Marlin Jakobi. Und bekanntlich mag es auch der Algorithmus, wenn die Botschaft einfach ist.
Mittendrin steht Thilo Mischke, der zwar ein “Presenter”, aber keiner von der aufdringlichen Sorte ist. Der 43-Jährige versteht es, auf Menschen zuzugehen, seine kritische Haltung offen zu zeigen und zugleich fair zu bleiben. Die spektakulären Bilder aus den Gottesdiensten sind nicht mit versteckten Kameras entstanden. Vom australischen Pastor Ben Fitzgerald, der den Lörracher Gottesdienst leitete, bekam das Filmteam “nach einem Jahr Verhandlung” eine Dreherlaubnis und ein Interview zugesagt.
Darin geht es etwa um die Frage, ob Heilungen von allen möglichen Krankheiten, wie sie während solcher Gottesdienste zelebriert werden, nicht gefährlich sind. Zu sehen ist, wie ein junger Mann humpelnd aus seinem Rollstuhl aufsteht, in den er sich später wieder setzt. Ein weiterer Aussteiger, hier dann anonymisiert, macht klar, welcher Druck auf denen laste, die geheilt werden sollen: Wenn es nicht funktioniere, “dann bist du selber schuld”, sagt er.
Fitzgerald selbst antwortet auf die Heilungs-Frage, er glaube, “dass Gott wie ein Mechaniker in den menschlichen Körper eingreifen kann”, und dass er natürlich dazu rate, immer auch Ärzte aufzusuchen. Aus dem Off fügt Mischke hinzu, dass er während dieses Interviews die spezielle Schwierigkeit dieser ganz besonderen Recherche erkannt habe: “Wer glaubt, glaubt”, so Mischke – und lasse sich von rationalen Argumenten allenfalls begrenzt berühren.
Mit noch allerhand weiteren Beispielen entsteht ein Bild, wie radikales Christentum sich global und auch in Deutschland verbreitet und wie die in Europa durch Trennung von Staat und Kirche institutionalisierten Grenzen zur Politik verschwimmen. Das illustriert etwa ein Berliner “Marsch für das Leben”, also für ein Abtreibungsverbot. Mischke mischt sich auch da unter die Demonstranten. Er hört, dass das Recht auf Leben das “allerstärkste Menschenrecht” sei, und ergänzt, dass eine starke Eingrenzung des Abtreibungsrechts dem AfD-Programm entspricht. Dazu redet er mit dem rechtslastigen YouTuber Leonard Jäger (“Ketzer der Neuzeit”), der zum Christentum bekehrt wurde, und zwar von der Youtuberin Jasmin Neubauer (“Liebe zur Bibel”). Besonders das Genderthema “triggert” die rechten Christen “total”, ordnet die kritische Publizistin Liane Bednarz ein.
Anschließend führt die Reportage nach Uganda, das als “Trainingslager für Missionare aus der ganzen Welt” diene, auch wegen des vom Deutschen Reinhard Bonnke gegründeten Missionswerks “Christ For All Nations”. Hier bewegt sich Mischke auf einer “Crusade” genannten Gottesdienst-Veranstaltung, bei der sogar Krankheiten wie eine HIV-Infektion ausgetrieben werden sollen. “Jesus ist der Heiler”, erklärt die Predigerin Jana im Interview, und zum Arzt gehen solle man trotzdem immer. Wie sehr sich die Worte in Uganda und in Lörrach gleichen, frappiert.
Die USA bereist Mischke dann auch noch ausführlich. Im kalifornischen Redding, am Sitz der Bethel Church, wo auch Fitzgerald ausgebildet wurde, findet der Reporter nicht sehr viele Gesprächspartner. Drei Aussteigerinnen reden mit ihm. Seine Frage, ob sie erlebt haben, “was die großen Kirchen in Europa auch kennen: sexuelle Belästigung”, beantworten die drei mit ja, das sei auch in evangelikalen Freikirchen die Regel.
Reddings republikanische Bürgermeisterin wiederum erzählt gerne, dass die Bethel Church nicht nur viele Stunden ehrenamtlicher Arbeit leiste, sondern der Stadt auch Geld spende, etwa um Stellen bei Polizeistellen halten zu können. Doch es geht vom Lokalen auch in die große Politik. Evangelikale Christen, wie etwa der Initiator der Organisation “Pastors for Trump”, sind überzeugt, den Wahlkampf entscheiden zu können – denn “Christen hören auf ihre Pastoren wie auf Hirten”. Man sieht, wie die Bewegung ihren Einfluss Stück für Stück ausbauen konnte, von der öffentlichen Thematisierung der privaten Sexualität über die lokale Politik bis hin zu landesweiten Gesetzen. In diversen US-amerikanischen Bundesstaaten wurden Gesetze unter fundamentalistisch-christlicher Prägung verschärft.
Einen Wermutstropfen hat die Doku: Sie ist zu lang. Die US-amerikanischen Beobachtungen fügen insgesamt wenig Neues hinzu, sondern leiten zu Mischkes parallel erstellter Wahlkampf-Reportage über. Der kritische Religionswissenschaftler Bradley Onishi sagt: Natürlich strebten die radikalen Evangelikalen, auch wenn sie behaupteten, alles für Jesus zu tun, nach Macht, Einfluss und Aufmerksamkeit für sich selbst. Und dass zu solcher Aufmerksamkeit beitrage, wenn ihre Massenveranstaltungen mit enthusiasmiertem Publikum gefilmt werden.
Mischke kommen daraufhin Zweifel an seiner Arbeit, und diese Reflexion auf der Metaebene des Filmemachens hätte sich gut zum Ausstieg aus der dennoch auch mit ihren 140 Minuten (inklusive Werbung) verdienstvollen Reportage geeignet. Doch das Filmteam reist weiter nach Costa Rica, wo Jasmin “Liebe zur Bibel” Neubauer die Taufe, die an Leonard “Ketzer der Neuzeit” Jäger im blauen Ozean vollzogen wird, nach Influencer-Manier in die sozialen Medien postet. Mindestens das ist eine Drehung zu viel. Trotzdem bleibt der Film sehenswert – nicht nur, aber auch für alle, die sich für christliche Themen interessieren.
Vorgestellt wurde der Film (Produktion: pqpp2 im Auftrag von ProSieben, gefördert von der Berlin-Brandenburger MABB, Regie: Johanna Rose-Jastram ) am Donnerstagabend in der Parochialkirche in Berlin. Die im Kern barocke, evangelische Kirche habe man gewählt, “weil wir uns ja nicht gegen Religion und Kirche positionieren wollen”, sagte ProSieben-Redakteurin Sandra Piwon.