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Wie eine Schneiderin liebgewonnene Erbstücke repariert

Ein Samtkleid voller Emotionen: Es passt nicht mehr, aber Christiane Wagner will es nicht wegwerfen. Eine Schneiderin in München hilft nun dabei, Erinnerung zu erhalten – und nicht in den Kleidersack zu stecken.

Der Stempel von Eva Heinrichs Nähmaschine, Modell Bernette, gleitet über den schwarzen Samt eines Abendkleids. Die 81-Jährige sitzt in einem Seniorentreff im Münchner Stadtteil Harlaching. Vor ihr liegen Gummibünde, Stecknadeln und eine alte Keksdose, die die Pfälzerin in eine Garnbüchse umfunktioniert hat. Daneben haben Gäste des Treffs ihre Kleidungsstücke ausgelegt, denen sich Heinrich in den kommenden zwei Stunden widmen wird.

Heinrich ist ausgebildete Schneiderin, aber seit einem Jahr repariert sie die Kleidung von Senioren, die sich den Neukauf von Textilien nicht leisten können oder die nicht wollen, dass ihr Schrank aus den Nähten platzt. Unter den Mitbringseln sticht ein altes Samtkleid heraus. Das wertige Stück besteht aus einem blumigen Blusenoberteil, das nahtlos in einen schwarzen Rock übergeht.

Das Kleid gehört Christiane Wagner, einer gebürtigen Münchnerin. Es ist ihr zu eng geworden; sie will es vergrößern lassen. Dazu hat sie das Kleid am hinteren Rücken aufgeschnitten und ein Samtstück präpariert, das Heinrich zur Verbreiterung einnähen möge. Wagner hängt an dem Stück, denn das letzte Mal trug sie es, als ihre Mutter im Sterben lag – seitdem lag es im Kleiderschrank. 20 Jahre ist das her. Sie betont, dass es “Fast Fashion” in ihrem Schlafzimmer nicht gebe. Dort hingen nur Stücke, die sie allein, mit ihrer Mutter und Großmutter über die vergangenen 60 Jahre hinweg aus den Läden Münchens zusammengekauft hat. Darunter auch das Samtkleid.

Dass ein Kleid, wie das von Wagner, nicht einfach entsorgt und ersetzt wird, ist eher selten. Viele Kleidungsstücke in Deutschland bleiben sogar ungetragen, wie eine Umfrage der Umweltorganisation Greenpeace zeigt. Insgesamt betreffe dies eine Milliarde Kleidungsstücke – eine weitere Milliarde werde “selten” getragen. Selten, das heißt, nicht häufiger als alle drei Monate.

Für eine weitere von Heinrichs Besucherinnen kommt das nicht in die Tüte. Sie nutzt ihre Kleidung, bis selbst eine Reparatur nicht mehr möglich sei, wie sie erzählt, kommt deshalb schon länger in das Harlachinger Nähcafé. Heute hat sie ihre alte Schlafanzugshose mitgebracht, Marke Ulla Popken in Gelb, der alte Bund ist ausgeleiert. Sie zieht ihn heraus, Heinrich misst ihren Hüftumfang, schneidet der Länge entsprechend ein Stück Gummiband ab und führt ihn in den Hosenbund. Vorher hat sie eine Sicherheitsnadel durch das vordere Ende des Gummistücks gepinnt. Indem sie Druck auf die Sicherheitsnadel ausübt und sie nach links drückt, bewegt sich das neue Gummi langsam durch den Bund des Pyjamaunterteils.

Nach Gründung der Bundesrepublik begann Eva Heinrich ihre Schneiderausbildung. Unter schwierigen Umständen, wie sie selbst sagt. Kurz vor dem Abschluss der mittleren Reife im April lud sie die Chefin ihres späteren Schneiderbetriebs schon im März “an die Nadel”. Gegen den Widerstand des Mädchenlyzeums schickten ihre Eltern einen Brief an das rheinland-pfälzische Kultusministerium, um den früheren Schulabschluss zu ermöglichen. Es sei ihnen wichtig gewesen, dass ihre Tochter den richtigen Griff mit der Schere lernt. Erfolgreich – denn Eva saß ab März vor einer Pfaff-Maschine.

Seitdem habe sich im Schneidergeschäft viel verändert. Waren die Stücke früher oft aus Wolle und Samt, findet sie in den Regalen der großen Modelabels heute fast nur noch Mischstoffe mit hohen Kunstfaseranteil. Nachhaltigkeit bedeute für sie, Kleiderstücke zu kaufen, die recycelbar sind und sich abändern lassen. Mit Mischstoffen sei das schwieriger.

Während Heinrich die Maschine rückwärts nähen lässt, blickt Wagner in die Vergangenheit. Kurz nach dem Krieg habe es den Beruf der “Störnäherin” gegeben: Sie seien in die Privaträume der Menschen gekommen, um Kleinigkeiten zu reparieren. Ausgebildete Schneiderinnen nannten sie abschätzig Störnäherinnen, weil diese entgegen den Vorgaben der Handwerkskammer ohne Lizenz eine Näherei betrieben.

Sie erzählt von einer Näherin, die in ihre Familie kam, um ein Kleid für ihre Schwester zu nähen. Stoff war Mangelware, deshalb entschied sich ihre Mutter kurzerhand, das Stück aus den Gardinen ihres Kinderzimmers schneidern zu lassen. Kataloge habe es nicht gegeben und Kleider von der Stange habe sie sich nicht leisten können. Im Nähcafé festigt sich derweil der Eindruck, dass sich beide Frauen diese Mentalität des “Upcyclings” erhalten haben.

Einen Katalog besaß auch Heinrich nicht, als sie in ihrem ersten eigenen Laden Stoffe für ihre Konfektionen bestellte. Stoffhändler schickten ihr stattdessen ein großes Brett, auf das viele kleine Stoffstücke angeheftet waren. Auf der Grundlage von Haptik und Farbe entschied sie über die Auswahl der Bestellung – kein Internet, kein Großhandel, nur ein Stück Holz mit Stofffetzen.

Während Wagners Kleid 60 Jahre alt ist und vor dem Tod ihrer Mutter regelmäßig getragen wurde, landet ein großer Teil der heute produzierten Kleidung nach kurzer Zeit im Müll. Laut Umfrage von Greenpeace wirft die Hälfte der Deutschen Schuhe, Oberteile und Hosen innerhalb von weniger als einem halben Jahr weg. Spätestens nach drei Jahren werden mehr als die Hälfte der Kleidung ausgemistet. Fast jede und jeder Zweite hat im vergangenen halben Jahr Kleidung weggeworfen.

Inzwischen hat Heinrich das präparierte Samtstück in das Kleid eingearbeitet. Zwei Stunden sind vergangen. Sie legt es auf das Bügelbrett, um es vorzuführen. “Die Souveränität Ihrer Griffe ist beeindruckend”, sagt Wagner. – “Jeder hat seine Talente”, entgegnet Heinrich. Wagner will das Stück nun zu besonderen Anlässen tragen. Es lebt weiter, so wie die Erinnerung an ihre Mutter.