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Wenn Kinder nicht mehr leben wollen – Die Sorge endet nie

Philipp stürzt nach dem Abitur ab; Anna ist 14, als sie das erste Mal versucht, sich selbst zu töten. Für beide Familien ein Schock. Jahre später kämpfen sie mit der Erfahrung – und suchen die Schuld bei sich.

Als Anna nach ihrem ersten Suizidversuch die Klinik wieder verlässt, unterschreibt sie einen Vertrag. Darin steht, dass sie es nicht noch einmal versuchen wird. Anna ist 14 Jahre alt und heißt eigentlich anders. Ihr Name – so wie die Namen aller anderen Menschen, die in diesem Artikel vorkommen – ist geändert. Wenige Monate später will Anna sich erneut das Leben nehmen. Diesmal schluckt sie Tabletten, die sie gesammelt hat. Wenn Annas Bruder damals zehn Minuten später nach Hause gekommen wäre, wäre sie heute vielleicht nicht mehr am Leben.

Es folgen Klinikaufenthalte und ambulante Therapiestunden. Für Annas Eltern ist es die Hölle. “Bei der kleinsten Unregelmäßigkeit – sie kam später nach Hause als vereinbart oder ging nicht an ihr Handy – schrillten die Alarmglocken”, erzählt Peter, der Vater. Heute ist seine Tochter 20 Jahre alt, sie hat die Schule abgeschlossen und eine Ausbildung begonnen. Die Lage habe sich entspannt, sagt Peter. Doch wenn er und seine Frau in den Urlaub fahren, will er jeden Tag eine Nachricht von seiner Tochter. “Ein Daumen hoch per WhatsApp reicht schon.”

Die Eltern erfahren erst später, dass ihre Tochter den Suizid Mitschülern in einer Chatgruppe angekündigt hatte. Eine habe geschrieben: “Das machst du ja sowieso nicht.” Ein anderer meint: “Dann mache ich mit.” Niemand vertraut sich einer Lehrkraft oder Eltern an, das hatte die Gruppe so vereinbart: Nichts dürfe nach draußen dringen. Daran halten sich alle – bis auf ein Mädchen. Als Anna nach ihrem ersten Suizidversuch nicht in der Schule erscheint, meldet sie sich bei deren Eltern. “Sie sagte, sie mache sich Sorgen um Anna, ob alles ok sei.” Vom Suizidversuch wusste die Mitschülerin da noch nicht.

Peter sagt, er wolle der Schule keinen Vorwurf machen. Aber im Unterricht werde über Drogen gesprochen, über Alkohol und Rauchen – über mentale Gesundheit nicht. Niemandem scheint aufgefallen zu sein, in welcher Not sich das Mädchen befand. Auch den Eltern nicht. “Anna hatte damals zu vielen Dingen eine negative Einstellung, aber sie war ja auch mitten in der Pubertät, da ist das normal, dachten wir.”

Beim ersten Suizidversuch hinterlässt Anna einen Brief. Es bricht Peter das Herz, als er ihn liest. Zum ersten Mal erkennt er, wie sehr seine Tochter gelitten hat, wie tief ihr Schmerz war. Sie schreibt von den Menschen, die schlecht seien, weil sie die Umwelt zerstörten und Kriege anzettelten. Da sie selbst ein Mensch sei, sei es besser, sie sei weg.

10.119 Menschen sind im Jahr 2022 in Deutschland durch Suizid gestorben – fast 28 Menschen pro Tag. Das sind mehr Tote als durch Verkehrsunfälle, Mord, Totschlag und Drogen zusammen. Noch häufiger als vollendete Suizide sind Suizidversuche – Schätzungen gehen von mindestens 100.000 pro Jahr aus.

Mit einer Nationalen Strategie zur Suizidprävention will die Bundesregierung nun die Vorsorge stärken: Menschen sollen für das Thema sensibilisiert werden, psychische Erkrankungen sowie Suchterkrankungen entstigmatisiert und Beratungs- und Unterstützungsangebote ausgebaut und überhaupt bekannt gemacht werden. “Suizid ist in den allermeisten Fällen eine vermeidbare Todesursache”, heißt es dazu im Papier des Bundesgesundheitsministeriums. Hinter Suizidgedanken stehe oft nicht das Gefühl “Ich will nicht mehr leben”, sondern eher der Gedanke “Ich will so nicht mehr leben”.

Als Susannes Sohn nach dem Abitur ein Jahr nach Australien geht, atmet die Familie auf. “Er war glücklich dort”, sagt die Mutter. Die Zeit davor beschreibt sie als “zäh”. Philipp sei weder ein besonders guter, noch ein besonders schlechter Schüler gewesen. “Ihm fehlte der Antrieb, er hat sich für nichts interessiert”, sagt Susanne. Er hatte Freunde, aber nicht viele, er ging zur Schule, aber nicht gerne, ein Hobby habe er nicht gehabt. Außer Origami: Philipp faltet Lebewesen in größter Detailtreue. Das Leben sei ihm fremd geblieben, alles Bürokratische musste die Mutter erledigen, das Auslandsjahr, die anschließende Ausbildung, die er mit Ach und Krach geschafft habe.

Danach sei der Absturz gekommen: Einen Job habe er sich nicht suchen wollen, und als nach ein paar Monaten das Geld aufgebraucht gewesen sei, habe er vor der elterlichen Wohnungstür gestanden. Die Eltern ließen ihn wieder einziehen. Susanne ist da längst klar gewesen, dass ihr Sohn Hilfe braucht. Doch der verweigert sich. Die Mutter kontaktiert die Hausärztin, die sagt: “Da können Sie nichts machen, Sie müssen warten, bis es knallt.” Der Knall kommt.

Eines Abends rastet Philipp aus und zerschlägt Mobiliar im gesamten Haus. Die Eltern weisen ihn aus der Wohnung, Philipp wird obdachlos, die Eltern verlieren den Kontakt. Bis eines Tages die Polizei anruft. Da hat Philipp einen ersten Suizidversuch hinter sich. Es beginnt eine Odyssee durch Kliniken und ambulante Behandlungen. Dass er psychisch schwer krank ist, will Philipp nicht einsehen. Den Eltern sind die Hände gebunden; Philipp ist längst volljährig, 24 Jahre alt. “Das ist ein Drama, das sind erwachsene Kinder, aber wenn die ihr Leben nicht packen, können die Eltern nichts tun.”

Irgendwann erreicht Susanne, dass ihr Sohn eine Vorsorgevollmacht unterschreibt. Seitdem nimmt sie die Dinge in die Hand. Susanne wird zur Expertin, ihr Wissen habe sie sich mühsam zusammensuchen müssen. Ein Entlassungsgespräch aus der ersten Klinik beispielsweise musste sie sich erkämpfen. “Dabei wäre das der Anknüpfungspunkt, um Angehörige einzubeziehen”, sagt Susanne. Und zu klären, wie es weitergeht. Bis Philipp auf seine Medikamente eingestellt ist, vergehen Monate. Bis er eine geeignete Unterkunft gefunden hat, Jahre.

Mittlerweile gehe es ihm besser, sagt die Mutter. Philipp wohnt in einem sozialtherapeutischen Wohnheim, einmal in der Woche hätten sie Kontakt, persönlich oder übers Telefon. Unter den Ansprechpersonen in der Einrichtung seien mehrere Männer, das habe es ihrem Sohn erleichtert, sich zu öffnen. Die Sorge der Eltern um ihr Kind höre aber nicht auf. “Ich bin heute entspannter als noch vor zwei, drei Jahren, das Grundvertrauen aber ist verloren gegangen.” Susanne weiß, dass sie aufpassen muss, selbst nicht auf der Strecke zu bleiben: Dass ihr Sohn auf die Beine kommt, hängt maßgeblich von ihr ab.

Einmal im Jahr beantragt sie eine Kur für sich, lange geht sie trotz der Belastungen arbeiten. Überlebensinseln nennt sie das. “Manchmal habe ich mich gefragt, was mit psychisch Kranken ist, die kein familiäres Netz haben, das sie auffängt.” Für ihren Sohn hätte sie sich gewünscht, dass er einen Mentor gehabt hätte, der ihn während der Jugendjahre begleitet – jemand, der nicht Vater oder Mutter ist. “Von den Eltern wollen sich die Kinder gerade abgrenzen, die sprechen ja nicht mehr mit uns.”

Ein großes Thema für die Angehörigen ist die Frage nach der Schuld. Susanne ist wie Peter in einer Selbsthilfegruppe für Angehörige nach versuchtem Suizid. Die Frage nach dem “Warum” quält dort viele: Haben sie als Eltern, Kinder, Schwester, Bruder etwas übersehen? Was ist schief gelaufen? Peter erzählt immer wieder von dem Gespräch, das seine Tochter mit einer Therapeutin in der Klinik hatte, in der sie ganz am Anfang teilstationär untergebracht war.

Es fand nur wenige Wochen vor dem zweiten Suizidversuch statt. Als Peter der Therapeutin später erzählt, dass Anna versucht habe, sich erneut das Leben zu nehmen, fällt sie aus allen Wolken. Sie sah Anna auf dem Weg der Besserung. “Die Betroffenen können gut schauspielern, das zu durchschauen fällt selbst Profis schwer.” Am Tag des Suizidversuchs hatte Anna ihr Zimmer aufgeräumt, sich schick angezogen. “Es geht aufwärts”, glaubte Peter.

Auch Susanne sagt: “Ich kann mir nur immer wieder sagen: Ich habe keine Schuld bei mir und meinem Mann finden können.” Philipp habe eine ältere Schwester, es habe nie Probleme gegeben, inzwischen sei ihre Tochter verheiratet, habe selbst Kinder. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb versucht Susanne, Positives aus ihrer Situation und dem Erlebten zu ziehen. “Mein Blick auf die Gesellschaft hat sich verändert.” Ihre Definition von Normalität sei heute eine andere: “Es ist normal, psychisch zu erkranken, obdachlos zu werden, tief zu fallen, Krisen zu haben und sich dann Hilfe zu holen.”