Wie nennt man eigentlich Menschen, die zuhause vor einem Bildschirm sitzen und im Fernsehen oder Internet einen Gottesdienst ansehen? Gemeindeglieder? Gottesdienstbesucher*innen? Oder, digitaldeutsch, Follower?
„Das weiß ich selbst nicht“, lacht Wolfgang Loest, Pfarrer der Lippischen Landeskirche und dort für Experimente im Social-Media-Bereich zuständig. Aber auch ohne eine feststehende Bezeichnung ist für ihn klar: Diese Menschen feiern gemeinsam Gottesdienst.
Genauso sieht das Konstanze Kemnitzer, Professorin für Praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Ausschlaggebend ist für sie dabei Martin Luthers Beschreibung des Gottesdienstgeschehens: „Dass unser Herr selbst mit uns rede und wir wiederum mit ihm reden durch unser Gebet und Lobgesang.“ „Das geschieht selbstverständlich auch in den digitalen Formen“, sagt die Theologin.
Seitdem Mitte März erstmals die Meldung über abgesagte Gottesdienste die Runde machte, machen deutlich mehr Menschen als je zuvor diese Erfahrung – und zwar nicht mehr nur die Jungen, die ohnehin offen sind für alles Digitale, sondern auch Menschen jenseits der 50, für die eine solche Form der Gemeinschaft bisher nicht denkbar war.
Das hat Wolfgang Loest gleich zu Beginn der Corona-Zeit erlebt: Da improvisierte er gemeinsam mit dem Pfarrehepaar Hanke-Postma einen Gottesdienst in der leeren Dorfkirche von Belle in Lippe, der live ins Internet übertragen wurde – gestreamt, wie es in der Digitalsprache heißt. Ganz klassisch, mit Liturgie und Predigt vom Altar aus und mit Liedern, die Pfarrer Postmar selbst am Klavier begleitete. Die einzige digitale Besonderheit im Ablauf war das Fürbittengebet: Dafür konnten die Zuschauerinnen und Zuschauer per Chat-Funktion Bitten schicken, die dann laut vorgelesen wurden und in das Vaterunser mündeten.
Die Reaktionen, die Wolfgang Loest auf dieses schnell zusammengestrickte Format bekommen hat, zeigen: Die, die zuhause am Computer dabei waren, haben nicht einfach nur ein Video gesehen; sie fühlten sich vielmehr direkt angesprochen und innerlich beteiligt. „Ich wollte es vorher nicht glauben, dass auf diese Weise Gemeinschaft möglich ist, aber ich habe sie gefühlt“, schrieb ihm etwa ein Mitfeiernder. Und eine ältere Frau bedankte sich überschwänglich: „Ich bin so froh, dabei gewesen zu sein.“
Für Konstanze Kemnitzer sind solche Reaktionen nicht erstaunlich. Sie forscht bereits seit Längerem über die mediale Verbreitung von Gottesdiensten, sei es im Radio, Fernsehen oder im Internet. Dabei spielen grundsätzliche Beobachtungen zum Erleben und Wahrnehmen im Gottesdienst eine Rolle: „Niemand macht den Gottesdienst allein – alle, die mitfeiern, sind aktiv“, erklärt die Theologin. Also: Die, die den Gottesdienst gestalten und die, die ihn mitfeiern, lassen sich bewusst auf die Wirklichkeit des Evangeliums ein. „Die biblischen Textwelten transportieren diese andere Wirklichkeit, in die alle Feiernden gemeinsam eintauchen, singend, betend, lauschend, schweigend, redend“, so Kemnitzer.
Das funktioniert allerdings nur, wenn alle „mitspielen“ – also mit ihrer inneren Vorstellungskraft in der Wirklichkeit des Evangeliums unterwegs sind. „Imagination des Evangeliums“ nennt Kemnitzer das. Und das ist auch dann möglich, wenn man am Gottesdienst nicht real, sondern nur digital teilnimmt – die Teilnehmenden speisen ihre eigenen Erinnerungen und Vorstellungen in die Bilder ein, die sie auf dem Bildschirm sehen, und erfüllen sie so mit Leben.
Eine Schwierigkeit dabei ist unsere Neigung, uns ablenken zu lassen. Das gilt schon für die vertraute Form des Gottesdienstes, in der der Kirchraum und die gemeinsamen Rituale die Konzentration auf das Eigentliche unterstützen. „Digital ist es aber noch viel leichter als im realen Leben, abgelenkt zu werden, innerlich und dann auch schnell äußerlich abzuschalten, zu- und auszumachen“, sagt Kemnitzer. „Die digitale Gottesdienstpraxis zeigt noch mehr als der Alltag in den realen Kirchen- und Andachtsräumen: Die Imagination des Evangeliums und die Gemeinschaft, die sie stiftet, ist ein flüchtiges, zittriges, sanftes, zerbrechliches und leicht zerstörbares Wehen des Heiligen Geistes.“
Kann man es der Gemeinde vor den Bildschirmen leichter machen, in diese zerbrechliche Welt einzutauchen und dabeizubleiben? Kemnitzer schlägt etwa vor, bereits zu Anfang eines digitalen Gottesdienstes oder einer Andacht einen Weg „hinein“ in die andere Wirklichkeit zu ebnen, etwa durch das Bild einer brennenden Kerze oder das langsame Heranzoomen an den Altarraum.
Außerdem spielt auch die Haltung derer, die den Gottesdienst gestalten, eine wichtige Rolle: „Je mehr die Gottesdienstfeiernden selbst mit ihrer persönlichen Vorstellungskraft aus der Alltagswelt in die Welt der biblischen Worte abtauchen, je mehr sie selbst vor ihren inneren Augen sehen und im Herzen bewegen, was nur im Klang der Verkündigung für die Seele sichtbar wird – desto mehr überträgt sich dieses ,Innere Schauen‘ auch auf die, die an den Bildschirmen mitfeiern“, meint Kemnitzer.
Wolfgang Loest, der bereits vor der Corona-Krise im Bereich digitaler Gottesdienst experimentiert hat und in der Lippischen Landeskirche die Online-Gemeinde „kirche.plus“ aufbaut, sucht gerade nach weiteren Möglichkeiten, durch Gottesdienste im Netz eine echte Gemeinschaft zu ermöglichen. Für vielversprechend hält er die Möglichkeit, per Chat direkt auf das Gottesdienstgeschehen einzugehen und es mitzugestalten – etwa mit den Fürbitten, aber auch mit live eingespielten Fragen zur Predigt, auf die der Prediger oder die Predigerin dann eingeht oder über die sich die Online-Gemeinde dann im Chat austauscht.