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Wenn der Blick in die Zukunft schiefgeht

Der Wunsch, die Zukunft vorherzusehen, beschäftigt nicht nur Astrologen und Science-Fiction-Autoren, sondern auch ernsthafte Forscher. Nicht immer waren die Prognosen richtig. Die Fehleinschätzungen waren bizarr, makaber – und manchmal amüsant

Der bevorstehende britische EU-Austritt, ein irrlichternder Präsident in Washington und Rechtsaußen-Parteien, die reihenweise in Europa an die Regierung gelangen – vor wenigen Jahren hätte sich kaum jemand all das vorstellen können. Im Gegenteil, noch 1992 hatte der Politologe Francis Fukuyama nach der Wende in Osteuropa das „Ende der Geschichte“ verkündet. Alle Gegenmodelle zur liberalen, marktwirtschaftlich organisierten Demokratie seien gescheitert, die künftige Entwicklung der menschlichen Gesellschaft somit vorgezeichnet. Aus heutiger Sicht teilt der Amerikaner Fukuyama das Schicksal vieler Forscher, die versuchten, in die Zukunft zu blicken: Er lag falsch.

Häufig wird die Gegenwart fortgeschrieben

„Im Grunde neigen Zukunftsdenker dazu, gegenwärtige Trends in die Zukunft fortzuschreiben“, sagt der Historiker Joachim Radkau, emeritierter Professor der Uni Bielefeld und Autor des Buches „Geschichte der Zukunft“. So erklären sich wohl auch spektakuläre Fehlprognosen zum technischen Fortschritt. „In den 1960er Jahren war man der Meinung, Computer würden immer riesiger und teurer werden“, erzählt Radkau. „Die kommunale Neuregelung in der Bundesrepublik wurde auch damit begründet, künftig könnten sich nur große Kommunen noch Computer leisten.“
Der Zukunftsforscher Matthias Horx legte sich noch 2001 in einem Zeitungs-Gastbeitrag fest: „Das Internet wird kein Massenmedium – weil es in seiner Seele keines ist.“ Auch einem Siegeszug von E-Commerce erteilte er damals eine Absage. Dass Bestellungen über das Internet je zu einem nennenswerten Wirtschaftsfaktor würden, sei unwahrscheinlich, denn „dann wären unsere Städte rund um die Uhr verstopft mit Lieferwagen, die kleine und kleinste Pakete zu Menschen bringen würden, die sowieso nicht zu Hause sind“.
Andererseits gab es auch Phasen, in denen der Glaube an den technischen Fortschritt kaum Grenzen kannte, so in der Zeit nach der ersten Mondlandung. „Die USA planen nun einen bemannten Flug zum Mars, der etwa 1980 stattfinden soll“, heißt es beispielsweise in einem Jugend-Sachbuch von 1969.
Bezeichnend ist die Atom-Euphorie der Nachkriegsjahrzehnte. Die Atomenergie schaffe „aus Wüste Fruchtland, aus Eis Frühling“, schrieb Ernst Bloch 1959 in seinem „Prinzip Hoffnung“. Was heute als Alptraum jedes Klimaforschers gelten würde, erschien dem Philosophen durchaus wünschenswert: „Schon ein paar hundert Pfund Uranium und Thorium würden ausreichen, die Sahara und die Wüste Gobi verschwinden zu lassen, Sibirien und Nordkanada, Grönland und die Antarktis zur Riviera zu verwandeln.“ Bis die Risiken der zivilen Nutzung der Kernkraft ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit rückten, vergingen Jahrzehnte.
Dabei hatten sich mit der „Kampagne gegen den Atomtod“ schon in den 50ern auch apokalyptische Zukunftsprognosen verbreitet, gerade in Deutschland, wo die Erinnerungen an den verlorenen Krieg allzu präsent waren. Der US-amerikanische Militär-Stratege Herman Kahn formulierte derweil ab Anfang der 60er Jahre in seinen Büchern Thesen, wie die USA in Zukunft halbwegs erfolgreich einen Atomkrieg führen könnten. „Selbst wenn die Hälfte oder ein Viertel der Nation den Tod fände, die Überlebenden würden sich dennoch nicht hinlegen, um zu sterben“, orakelte der ebenso bewunderte wie angefeindete Denker.
Grundsätzlich blickten viele Deutsche nach 1945 nicht mit großer Zuversicht in die Zukunft. So rechneten etliche Politiker der jungen Bundesrepublik mit einer Revanche der Alt-Nazis, bei der sie persönlich zur Rechenschaft gezogen werden würden. Karl Schiller, legendärer SPD-Politiker und angesehener Wirtschaftsexperte, veranschlagte damals 80 Jahre, um die Bundesrepublik nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg wieder aufzubauen.
Ganz im Gegensatz zum pessimistischen Westen verbreitete die neue Elite in Ostdeutschland anfangs Optimismus. Sie konnte sich auf die marxistische Lehre berufen, in der der Weg zur klassenlosen glücklichen Gesellschaft alternativlos vorgegeben war. Das Lenin-Zitat „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist“ schmückte noch kurz vor dem Zusammenbruch der DDR bunte Propagandaplakate vor maroden grauen Fabrikbauten. Erstaunlich nah an der Wirklichkeit erwies sich stattdessen die Prognose des sowjetischen Dissidenten Andrej Amalrik, der sich 1970 in seinem Essay „Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?“ mit dem Untergang der Supermacht nur um sieben Jahre verschätzte.
Historiker Radkau erkennt aber einen Unterschied zwischen Zukunftsforschern der Vergangenheit und aktuellen Debatten: Mittlerweile seien tatsächlich fundiertere Aussagen möglich als früher. Das liege daran, dass die Zukunft der Menschheit heute stärker von Umweltfaktoren abhänge – insbesondere vom Klimawandel – und somit von Naturgesetzen. Es sei durchaus sinnvoll, sich mit den verschiedenen möglichen Zukunftsszenarien zu befassen, sagt er. Denn: „Verantwortungsvoll handeln heißt, sich über die Folgen Gedanken zu machen.“

Joachim Radkau: „Geschichte der Zukunft – Prognosen, Visionen und Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute“. Carl Hanser Verlag München 2017, 28 Euro.