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Wenn das Glücksspiel zum Trauerspiel wird

„Wer Antennen dafür hat, entdeckt, wie viele Glücksspielanbieter es gibt“, sagt Daniel Nakhla. Der therapeutische Leiter am Therapiezentrum in Kraichtal-Münzesheim (Kreis Karlsruhe) weiß, wovon er gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd) spricht. Der Psychotherapeut behandelt Männer, die an „pathologischem Glücksspiel“ leiden.

Das Therapiezentrum, das 1974 als Suchtklinik für alkoholkranke Männer eröffnete, gilt als Zentrum der Glücksspielbehandlung in Deutschland. Rund 200 Patienten kommen pro Jahr mit der Diagnose „pathologisches Glücksspiel“ in die Rehaklinik der Kraichtal Kliniken der Evangelischen Stadtmission Heidelberg. Pathologisches Glücksspiel ist eine „substanzungebundene Sucht“.

Wiederholungszwang sowie Kontrollverlust über die Nutzung kennzeichnen den Charakter der Sucht. Simon B. berichtet, wie er allmählich in die Abhängigkeit geschlittert ist: „Es hat klein angefangen mit 20 Euro.“ Dann seien Kredite hinzugekommen, sagt der 38-Jährige. Was folgte, ist typisch für eine Suchtkarriere: Schulden, Scheidung, drohender Verlust der Wohnung, des Arbeitsplatzes. Seine Ex-Frau habe einen Brief gefunden, der alles auffliegen ließ. In der stationären Therapie erkannte Simon B.: „Das Glücksspiel war eine Flucht vor daheim.“

Ähnlich beschreibt der nunmehr seit neun Monaten trockene Alkoholiker „Johannes“, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, sein Abgleiten vom Genuss in den Zwang der Sucht. Überfordert mit der Pflege seines Vaters, habe er angefangen zu trinken. „Bier, Schnaps, Prosecco – zehn bis zwölf Mal am Tag“, schildert er, wie er die Dosis über eineinhalb Jahre erhöhte. Der 61-Jährige begann eine teilstationäre Therapie, in der er lernte, sich um sich selbst zu kümmern. „Meine Aufgabe ist es, zu schauen, was gut für mich ist“, resümiert er. Wenn er jetzt mit Freunden in die Kneipe gehe, plane er vorab das „Nein“ gegenüber dem Alkohol ein.

„Die Droge hilft, ohne Anstrengung aus belastenden Situationen herauszukommen“, erklärt Nakhla. Sich als „abhängig“ zu outen, sei schambehaftet – ein Teufelskreis. Der Hausarzt oder Beratungsstellen, etwa der Diakonie, können erste, niederschwellige Ansprechpartner sein. In der Therapie erleben Patienten eine Auszeit vom belasteten Alltag. Ob die Therapie greift, zeigt sich erst im anschließenden sechsmonatigen Alltagstest. „Wichtig ist es, nicht nur wegzukommen von der Droge, sondern eine Sinnhaftigkeit im Leben zu entwickeln“, betont der Therapeut.

Die Patienten müssten lernen, beziehungsfähig zu werden, sagt er. Denn „früher oder später leiden alle Sozialkontakte“, so die Erfahrung. Neben persönlichen macht Nakhla auch gesellschaftliche Gründe für die steigende Zahl von Suchterkrankungen aller Art aus. „Wenn Glaubenssysteme weniger Bedeutung haben als früher, greift die Sucht vermehrt um sich“, sagt er. Zudem hätten Drogen in Zeiten von Krisen und Ängsten „Hochkonjunktur“. „Es gibt in Deutschland eine Liberalisierung von Drogen, die im Alltag wahrnehmbar ist“, kritisiert der therapeutische Leiter.

Allein in der benachbarten 46.000-Einwohner-Stadt Bruchsal macht er fußläufig zum Bahnhof sechs Glücksspielanbieter aus, die auf den ersten Blick nicht für jedermann zu erkennen seien. Glücksspiel sei eine „unsichtbare Sucht“, sagt er: Man sehe sie den Menschen nicht an und man rieche sie nicht.

Stattdessen: Geld ist der Stoff, der das Spiel am Laufen hält. „Der gesamte Fußballsport ist von Wettanbietern gesponsert“, betont Nakhla. Zudem seien mit der Novellierung des Glücksspiel-Staatsvertrages von 2021 bis dahin illegale Glücksspiele im Internet wie Online-Poker, Online-Casinos oder Online-Automatenspiele legalisiert worden.

Auch Alkohol als „die einzige Droge, für die man sich rechtfertigen muss, wenn man sie nicht nimmt“, sei zu leicht verfügbar, ist er überzeugt. Alkohol sei in der Gesellschaft weit verbreitet und werde bagatellisiert. „Deutschland ist ein Hochkonsumland“, sagt Nakhla. (2504/08.11.2024)