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Weibliche Talente gesucht: Der schwere Weg an die Rathausspitze

Frauen an der Rathausspitze waren vor 30 Jahren eine Rarität. Das hat sich geändert – aber nicht sehr. Der Städtetag Baden-Württemberg ermutigt jetzt Frauen mit einem Projekt zur Kandidatur.

Das Land Baden-Württemberg will Frauen mit dem Projekt „Ich kann das! - Bürgermeisterinnentalente gesucht“ ermutigen
Das Land Baden-Württemberg will Frauen mit dem Projekt „Ich kann das! - Bürgermeisterinnentalente gesucht“ ermutigenwww.baden-wuerttemberg.de

„Haben Sie sich in der Tür geirrt?“ Diese Frage stellte vor 35 Jahren ein Dozent Anette Rösch, als sie den Raum zum Seminar „Wie werde ich Bürgermeister?“ betrat. Eine Frau als Rathauschef, das gab es damals in Baden-Württemberg nicht. 1994 setzte sich Rösch dann bei der Wahl in der 5.000-Einwohner-Gemeinde Wannweil bei Reutlingen gegen sechs Männer durch – und wurde mit 27 Jahren die fünfte Bürgermeisterin im Südwesten.

Manches hat sich seitdem geändert, doch bleiben weibliche Bürgermeister eine Rarität. In Baden-Württemberg sitzt bis heute nur in jedem elften Rathaus eine Frau an der Spitze. Das hat den Städtetag des Landes auf den Plan gerufen. Im Juli hat er das Projekt „Ich kann das! – Bürgermeisterinnentalente gesucht“ aus der Taufe gehoben. Mit 100.000 Euro Zuschuss aus dem Innenministerium sollen mehr Frauen zur Kandidatur ermutigt werden.

Vor 30 Jahren hatten es weibliche Kandidaten schwer

Anette Rösch freut sich über diese Initiative, musste aber schmunzeln, als sie davon hörte. „Das ist nichts Neues, das machen wir seit 30 Jahren“, sagt sie. Im Jahr nach ihrem Dienstbeginn sammelte sie die wenigen Bürgermeisterinnen und gründete ein bis heute existierendes Netzwerk. Dazu gehörte etwa Beate Weber (SPD), 1990 als Oberbürgermeisterin in Heidelberg ins Amt gekommen und damit erste Frau an einer Rathausspitze in Baden-Württemberg. Bis heute treffen sich die Frauen jedes Jahr für ein oder zwei Tage, um Erfahrungen auszutauschen. Außerdem halten viele von ihnen Vorträge und unterstützen andere Frauen, die für den Chefposten in einem Rathaus kandidieren.

Weibliche Kandidaten hatten es vor 30 Jahren sehr schwer, vor allem wenn sie jünger waren. „Wir mussten uns erklären“ – und es sei immer darum gegangen, ob sie Kinder haben wollten, erinnert sich Anette Rösch. Sie hatte das verneint, weil ihr nach einem schweren Unfall die Ärzte davon abgeraten hatten, schwanger zu werden. Doch eine Bürgermeisterin mit schulpflichtigen Kindern? Das lag damals jenseits der Vorstellungskraft der meisten Männer und Frauen. Das habe sich im Lauf der Zeit verändert.

Familienfreundlich sei der Job weiterhin nicht

Arbeit gebe es an sieben Wochentagen, nicht selten bis nach 23 Uhr. Und es geschehe viel Unplanbares: Feuerwehreinsätze, Hochwasser, menschliche Notfälle. „Da muss man parat sein.“ Ihrem Mann habe sie schon vor der ersten Wahl gesagt, worauf er sich einlässt – er habe sie vorbehaltlos unterstützt.

Anette Rösch hat zwei Wiederwahlen für sich entschieden und war insgesamt 24 Jahre im Amt. „Bürgermeister ist der schönste Beruf – aber man darf nicht zartbesaitet sein“, sagt sie. Sie erinnert sich an Telefonterror, Androhungen von Gewalt, ausgelegte Nägel, die ihre Autoreifen löcherten. Da dürfe man nicht an sich zweifeln. Andererseits hätten gerade kleine Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern ihren besonderen Charme: „Da kann man so viel machen und ist nah an den Menschen dran.“

Gesellschaft profitiert von Vielfalt im Bürgermeisteramt

Nach der dritten Amtsperiode kandidierte Anette Rösch nicht mehr, sondern kümmerte sich um ihren pflegebedürftigen Vater. Der ist inzwischen gestorben. Die Ex-Bürgermeisterin hat sich einen Ruf als freie Rednerin für Hochzeiten, Beerdigungen, Jubiläen und andere Anlässe aufgebaut. Sie hilft in Krisen – etwa während der Corona-Pandemie in einem Impfcenter und nun bei der Unterstützung für Flüchtlinge aus der Ukraine. Ehrenamtlich arbeitet sie in der Synode der Evangelischen Landeskirche in Württemberg mit.

Junge Frauen ermutigt sie weiterhin zum Bürgermeisteramt. Sie gibt dabei zu bedenken, dass eine Frau nach wie vor „doppelt so gut“ sein müsse wie ein Mann. „Wenn ein Mann verpeilt ist, nimmt man ihm das nicht so übel, als wenn eine Frau sagt, sie müsse eine Information nachreichen.“ Am Ende profitiere aber die ganze Gesellschaft davon, wenn die verschiedenen Perspektiven der Geschlechter in die Politik einflössen.