Hundertsechzig Mal kommt die Zwölf im Buch der Bücher vor. Und zwar an sehr bedeutenden Stellen. Gleich am Anfang der Bibel, im ersten Buch Mose, zum Beispiel. Stammvater Jakob, ein Enkel Abrahams, hatte zwölf Söhne. Kurz vor seinem Tod segnete er jeden von ihnen und erklärt sie zu den Keimzellen des Gottesvolkes: „Das sind die zwölf Stämme Israels alle, und das ist’s, was ihr Vater zu ihnen geredet hat, als er sie segnete, einen jeden mit einem besonderen Segen“ (1. Mose 49,28). Nachdem die zwölf Stämme berufen sind, taucht die Zahl immer häufiger auf. Zum Beispiel während der Wüstenwanderung Israels: Während seiner 40-jährigen Wüstenwanderung machte das Volk Israel Rast bei der Oase Elim. An zwölf Wasserquellen stillten die Israeliten dort ihren Durst (2. Mose 15,27). Am Fuß des Berges Sinai errichtete Mose einen Altar – zwölf Steinmale umgaben ihn, auf jedes war der Name eines Stammes eingemeißelt (2. Mose 24,4).
Zwölf Stiere, zwölf Widder und zwölf Ziegenböcke opferten die Israeliten an der Stiftshütte, dem ersten Heiligtum Israels (4. Mose 7,87). König Salomons Thron war umringt von zwölf goldenen Löwen (1. Könige 10,20).
Die Verfasser des Neuen Testaments führten die hohe Wertschätzung der Zwölf fort. Was aus theologischen Gründen verständlich ist: Die Botschaft Jesu richtete sich ja zuerst an das Volk Gottes. Dass Jesus zwölf Jünger in seinen inneren Kreis beruft, ist also symbolisch hochbeladen. Die Botschaft lautet: In Jesus führt Gott fort, was er mit seinem Volk Israel begonnen hat. An Stelle der zwölf Stämme treten die zwölf Jünger Jesu – allesamt, selbstverständlich, jüdischen Glaubens. Nach Jesu Tod sollen zwölf Apostel die zwölf Stämme Israels bekehren. Und am Ende aller Zeiten, im Jüngsten Gericht, werden die „alten“ Zwölf von den „neuen“ Zwölf zur Verantwortung gezogen (Matthäus 19,28).
Bei so vielen Zwölfen im Buch der Bücher liegt die Frage nahe: Was wäre die Bibel ohne die Zwölf?
Andersherum ist die Frage nicht minder spannend: Was wäre die Zwölf ohne die Bibel?
Viel, sagen die Weisen und Gelehrten dieser Welt und beschreiben, dass die Zwölf in allen Kulturen der Welt eine herausragende Bedeutung hat. Auch in der Mathematik. „Die Zwölf hat eine sehr schöne Eigenschaft: Sie ist die dreidimensionale Kuss-Zahl“, erklärt die Berliner Professorin Brigitte Lutz-Westphal, deren Fach die Didaktik der Mathematik ist. „Das bedeutet: Sie können zwölf mehrdimensionale Kugeln um eine gleich große Kugel herumgruppieren, ohne dass diese sich überschneiden.“ Auch bei sogenannten platonischen Körpern käme die Zwölf häufig vor – die Zwölf sei ein „mathematisches Naturphänomen“, ist Professorin Lutz-Westphal des Lobes voll, auch weil die Zwölf eine „erhabene“ und „abundante“ Zahl sei. Ein weiterer Vorteil: Sechs Teiler hat die Zwölf – das prädestiniert sie dazu, Fundament von Maßsystemen zu werden.
Alle Kulturen der Welt verehren die 12
Und sogar zur Basis für die gesamte abendländische Musik, bei der die Oktave, die weltweit als Wohlklang wahrgenommen wird, in zwölf gleich große Abstände unterteilt wurde. Diese Zwölftonreihe geht auf antike Zeiten zurück; zu ihrer Vollkommenheit hat sie erst Johann Sebastian Bach mit seinem „wohltemperierten Klavier“ entwickelt. Bach ordnete die Dur-Tonarten und die Moll-Tonarten und legte so das Fundament für Kunst der westlichen Musik.
Auch in der Theologie und Glaubensgeschichte ist die Zwölf präsent. „Sie ist der Multiplikator von zwei anderen zentralen heiligen Zahlen, nämlich drei und vier“, sagt der Theologe Christoph Markschies. Die Drei, die er erwähnt, ist tatsächlich eine „göttliche“ Zahl. Das christliche Gottesbild beruht auf der Drei, die göttliche Dreifaltigkeit besteht aus Gott-Vater, Sohn und Heiligem Geist – drei Wesenszüge, die Gott in sich trägt, drei Personen, die auf geheimnisvolle Weise drei Eigenschaften Gottes darstellen. Diese Drei steckt viermal in der Zwölf. Wobei die Vier alle Himmelsrichtungen und damit die gesamte Erde beschreibt. Wer drei Mal die Vier nimmt, verbindet demnach in symbolischer Weise den Himmel und die Erde, das Göttliche und das Menschliche. „In der Antike galt die Zahl auch als die Ordnungsstruktur, mit der Gott in Israel und die Götter in Babylon wie in Ägypten die Welt geordnet haben“, weiß der Kirchengeschichtler Christoph Markschies, „die Zahl war sozusagen die Spur, in der Gott, die Götter, das Göttliche in der Welt präsent waren. Das Ordnungsgerüst der Welt bestand aus Zahlen.“
In der Tat: Die Zwölf spielt nicht nur im Judentum eine große Rolle. Auch der griechische Götterhimmel ist von der Zwölf durchdrungen. Zwölf Titanen bilden das Götterkollegium. Verblüffend ähnlich sieht es in der nordischen Mythologie aus. Der Göttersitz Asgard besteht aus zwölf Himmelspalästen, in denen Thor, Odin und deren Mitstreiter hausen.
Vielleicht war Zwölf schon etwas Besonderes, bevor die Religionen auf den Weltenplan traten. Die Zwölfzahl ist älter als die Kulturen, vielleicht sogar noch mehr: Sie ist eine Grundlage der Kulturen. Sie wurde zum religionsverbindenden Element: Mit der Zwölf konnten alle etwas anfangen, die Menschen im Alten Orient wie die im hohen Norden, die Juden wie die griechischen Philosophen, und später auch die Christen. Die Zwölf steht als Ursprungszahl für Vollkommenheit über den Götterbildern, die die Menschen erschufen.
Christoph Markschies, der in Berlin Kirchengeschichte lehrt, findet weitere Anhaltspunkte in der Gnosis – einer antiken philosophischen Bewegung zur Zeitenwende. „Man konnte in der Antike auf der Straße Zauberpapyri kaufen, es war relativ normal, Zaubersprüche zu verwenden. In denen spielte dann die Zwölf auch eine große Rolle. Etwa, dass man einen Spruch zwölf Mal sagte oder dass zwölf Dämonen auftraten. In der philosophischen Bewegung der Gnosis gab es die Vorstellung von zwölf Gedanken, die Gott denkt, bevor er die Welt erschuf.“
Auch dies ist eine im Volksglauben verankerte Vorstellung: Gott und Teufel haben die Wichtigkeit der Zwölf als Zahl der Vollkommenheit erkannt und streiten um die Macht über die Zwölf. In Jesu direkter Umgebung ist das der bösen Seite für kurze Zeit gelungen: Judas, einer der zwölf Jünger Jesu, hat sich als Verräter und Handlanger Satans entpuppt. Damit war die vollkommene Zwölf zerstört. Nach der Auferstehung Jesu wählten die ersten Christen rasch einen Ersatz für den ausgefallenen Judas: Mit dem Apostel Matthias ist die Zwölfzahl wieder erreicht.
Zahlenmystik – Weisheit oder Spökenkiekerei?
Auch das Wissen der Sternenkundigen schlug sich in der Bibel nieder. In zwölf Tierkreiszeichen haben die Astronomen die auf der Erde zu sehende scheinbare Bahn der Sonne unterteilt. Das System fasziniert Menschen seit fünftausend Jahren. Heute findet es ein Echo in der Astrologie, die mal mehr, mal weniger seriös daherkommt. „Die zwölf Tierkreiszeichen haben eine jeweils unterschiedliche Schwingung“, erklärt die Berliner Astrologin Helga Biebers Ratsuchenden, „sie sind ein Bild für die Vollkommenheit der Schöpfung. Gott offenbart sich über diese zwölf Zeichen.“
Ist das Weisheit? Zahlenmystik? Spökenkiekerei? Die lange Geschichte der Zwölf mahnt zur Vorsicht bei schnellen Urteilen. Zu jeder Zeit mischten sich seriöse theologische Einsichten und munter unbedarfter Volksglaube, in jeder Zeit lebten Mystiker und Rationalisten, Enthusiasten und Kopfgesteuerte nebeneinander, gab es wissenschaftliche Gemüter, die spiritualistischen Versuchen, die Welt zu deuten, nichts abgewinnen konnten, schon gar nicht Zahlenspekulationen.
Bemerkenswert ist: Während sich Gottesbilder und Glaubenssysteme wandeln, bleiben die Zahlen unveränderlich. Das macht sie tatsächlich zu so etwas wie einem Rückgrat der Schöpfung. Erst recht die Zwölf.