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Was Menschen mit Behinderung vor der Bundestagswahl umtreibt

Für Menschen mit Behinderung gibt es beim Wählen einiges zu beachten: Wahlprogramme müssen ebenso barrierefrei sein wie der Wahlvorgang an sich. Verbände haben an die Politik konkrete Forderungen.

Bisher hat Luigi noch nicht gewählt. Dieses Mal ist es ihm aber wichtig: “Ich finde, dass die Politik in Deutschland einen neuen Weg gehen muss.” Mit der aktuellen Regierung sei er unzufrieden gewesen. Luigi ist 22 Jahre alt, blind und steht unter gesetzlicher Betreuung.

Mit anderen jungen Erwachsenen der Nürnberger Wohn- und Werkstätten für Blinde und Sehbehinderte nimmt er an einem frostigen Wintermorgen an einem Seminar mit dem Titel “Wie geht Demokratie?” teil. Mit der Kursleiterin sprechen sie über Mitspracherecht, Wahlprogramme und darüber, warum Wählen überhaupt wichtig ist. “Damit die Parteien, die für die Demokratie nicht gut sind, nicht gewinnen”, sagt Luigi. “Weil andere sonst für einen entscheiden”, ergänzt eine andere Teilnehmerin.

Erst seit 2019 dürfen alle Menschen mit Behinderung wählen. Wer unter sogenannter Vollbetreuung steht, war vorher ausgeschlossen. Wenn jemand Menschen mit Behinderung das Wahlrecht absprechen will, wie er es schon im Fernsehen mitbekommen hat, wird Luigi sauer: “Das finde ich einfach nur niederträchtig und nicht gut für die Gesellschaft.”

Gerade Menschen mit geistigen Einschränkungen sind mit Wahlprogrammen oft überfordert. Daher gibt es sie auch in “leichter Sprache”, die bestimmten Kriterien für Verständlichkeit folgt. Doch längst nicht alle Parteien bieten diesen Service: Mitte Februar gab es solche Programme von den im Bundestag vertretenen Parteien nur von der SPD, der Union, den Grünen und der Linken. Zusätzlich gibt es mittlerweile Hilfen, die den Wahlvorgang in leichter Sprache erklären.

Auch blinde Menschen brauchen barrierefreie Wahlprogramme. Für sie sei es wichtig, “dass in PDF-Dokumenten die Überschriften und Unterüberschriften als solche formatiert sind. Diese sogenannte Tag-Struktur ist essenziell bei langen Dokumenten wie Wahlprogrammen, die teilweise mehr als 80 Seiten umfassen”, heißt es dazu auf der Homepage des Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverbands.

Das Fazit fällt eher ernüchternd aus: “Leider haben nur die SPD und die FDP entsprechende PDF-Dokumente mit Tag-Struktur erstellt. Bei der FDP scheint allerdings bei Unterüberschriften dritter Ebene die Luft ausgegangen zu sein.” Allerdings verwendeten SPD, FDP und die Grünen in ihren Wahlprogrammen Schriftarten, die für Menschen mit Sehbehinderung empfohlen würden.

Der Bundesverband körper- und mehrfachbehinderter Menschen fordert außerdem den gleichberechtigten und gleichwertigen Zugang zu allen Lebensbereichen für alle. Das sei “kein individueller Luxus, sondern ein Menschenrecht”. Dafür müssten Standards entwickelt und Anreize gesetzt werden, damit Barrierefreiheit von Anfang an umgesetzt werde – “denn das ist die letztlich kostengünstigste Option.”

Der deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband verlangt zusätzlich, dass die Stimmzettel bundesweit einheitlich werden. Dann müssten die Wahlschablonen, mit denen blinde Menschen wählen, nicht individualisiert werden. Aktuell könne jeder Wahlkreisleiter ein eigenes Format festlegen. Angesichts der knappen Zeit seien sie bei dieser Bundestagswahl zwar einheitlich gestaltet worden, das sollte in Zukunft aber Standard sein.

Auch die Lebenshilfe hat Erwartungen an die Politik formuliert. Dazu gehört ein fairer Lohn für Menschen mit Behinderungen, die in Werkstätten arbeiten. Zugleich sei das 2016 verabschiedete Bundesteilhabegesetz besser umzusetzen. Außerdem brauche es mehr sozialen und barrierefreien Wohnraum, Kinder- und Jugendhilfe für alle und eine einheitliche Ausbildung in der Heilerziehungspflege. Aufgrund des Fachkräftemangels fielen Angebote für Menschen mit Behinderung ansonsten weg.

Luigi hat sich noch nicht endgültig entschieden, wen er wählen will – nur zwei Parteien schließt er von vornherein aus. Täglich informiert er sich – vor allem über Nachrichtensendungen, die er sich auf seinem Handy anhört. Generell steht aber auch für ihn fest: “Ich würde mir wünschen, dass Inklusion mehr gefördert wird.”