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Wahrheit auf dem Prüfstand

In der Flüchtlingsdebatte gibt es oftmals mehr ungesicherte als gesicherte Nachrichten. Daraus erwächst große Verantwortung – für die Medien und jeden Einzelnen

BERLIN/BIELEFELD –  Eine Bielefelder Tageszeitung machte es richtig: Sie registrierte, dass Gerüchte im Ort kursierten, recherchierte und stellte klar: Weder soll ein Hotel für Flüchtlinge umgebaut werden noch plündern Flüchtlinge das Frühstücksbüfett eines nahe ihrer Unterkunft gelegenen Restaurants.
Gerüchte sind wirkmächtig. Das zeigte auch die Geschichte eines Flüchtlingshelfers, der kürzlich einen Todesfall am Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales erfand. Kaum jemand zweifelte zunächst an seinem Bericht. Als sich am Ende des Tages herausstellte, dass er erlogen war, begann eine Rechtfertigungsmaschinerie. Niemand habe den Tod auch nur einen Moment lang für unwahrscheinlich gehalten, ist etwa für den „Tagesspiegel“ die „Erkenntnis“ aus dem Vorfall.
Der Medienjournalist Stefan Niggemeier kritisiert das als „gefährlichen Gedanken“. Er suggeriere, dass die Geschichte über den toten Flüchtling nicht wahr sein müsse, um wahr zu sein. Dass es genüge, dass alle sich vorstellen konnten, dass sie wahr sei. Dieser Mechanismus schüre die Gefahr, unbestätigte Nachrichten zu verbreiten und Einzelfälle als Beleg für das große Ganze zu nehmen.
Wer sich von einem Gerücht in seinem Vorurteil bestätigt sieht, ist Niggemeier zufolge auch nicht unbedingt bereit, seine Ansicht zu revidieren, wenn das Gerücht als solches enttarnt wird.

Unkontrollierte Verbreitung im Internet

Als einen Beschleuniger für Gerüchte sehen viele die sozialen Medien. Der ARD-Journalist Klaus Scherer sieht das Problem zum einen darin, dass heute quasi jeder ungefiltert und unkontrolliert angebliche Nachrichten verbreiten könne. Zum anderen misstraue gerade die junge Generation seriösen Medien. „Weil sie anders aufgewachsen sind, häufig ohne oder mit weniger Qualitätszeitungen und sie haben die Trennung von Quellen nicht so gelernt“, erklärt Scherer. Eine „Nachricht“ werde zigfach geteilt, ohne ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen.
Der Berliner Literaturwissenschaftler Hans Joachim Neubauer hat vor einigen Jahren eine Kulturgeschichte des Gerüchts geschrieben. Seiner Ansicht nach hat „Fama“, so der lateinische Terminus, aktuell wieder Hochkonjunktur: „Eine aufgeheizte Grundstimmung, wie sie momentan in der Diskussion um die Flüchtlinge herrscht, ist ein idealer Nährboden für solche Geschichten.“
Konkret: Jemand setze eine plausibel wirkende Story in die Welt, verankere sie an einem angeblichen Zeugen und schon werde das Gerücht weitergegeben. „Entscheidend ist, dass Gerüchte eine einfache Botschaft haben. Das macht sie so gefährlich“, erklärt Neubauer. Sehr häufig gehe es darum, eine gesellschaftliche Gruppe zu diskreditieren.
Die „Macht“ des Gerüchts sieht Neubauer allerdings differenziert: „In einem demokratischen Rechtsstaat werden Gerüchte selten die tatsächlichen politischen Entscheidungen beeinflussen.“ Sie wirkten jedoch indirekt: „Sie heizen die Atmosphäre auf, schaffen Sündenböcke, spalten die Gesellschaft.“ So entstehe Unsicherheit, die von Populisten ausgenutzt werden könne. AfD-Parteichefin Frauke Petry demonstriere momentan, wie das gehe. „In undemokratischen Gesellschaften sind Gerüchte ein fester Bestandteil der staatlichen Propaganda“, erklärt der Wissenschaftler.

Gerüchte als Gegenöffentlichkeit

Zugleich können Gerüchte Neubauer zufolge durchaus auch ihr Gutes haben: „Sie erzählen von der Zeit und der Gesellschaft, aus der sie stammen, von den Ängsten und Nöten und Sorgen und Spannungen.“ Vor allem in autoritären Staaten bildeten Gerüchte zudem eine Gegenöffentlichkeit, eine Alternative zum offiziellen Diskurs.  Ähnlich dem Witz erteilten sie eine Lizenz, über Dinge zu sprechen, über die „man“ sonst nicht spricht. Schließlich zitiere man im Gerücht immer andere, anonyme Sprecher und müsse nicht selber für die Wahrheit einstehen.