Frau Gidion, wie beurteilen Sie die kirchlichen Themen und Forderungen im neu verhandelten Koalitionsvertrag? Welche Entwicklungen sehen Sie?
Anne Gidion: Zunächst möchte ich betonen, dass sich CDU/CSU und SPD recht rasch und konstruktiv auf einen Koalitionsvertrag geeinigt haben. Das ist keine Selbstverständlichkeit, und gerade in politisch turbulenten Zeiten wichtig für unsere Demokratie. Zwar stehen noch Parteibeschlüsse aus, insbesondere das Mitgliedervotum in der SPD. Es ist jedoch ein wesentlicher Schritt getan. Wir sind natürlich gespannt auf die weitere Entwicklung und auf die kommenden Gesetzgebungsvorschläge und Debatten. Von heute aus betrachtet ist sehr positiv zu bewerten, dass es weiter einen Beauftragten der Bundesregierung für weltweite Religions- und Weltanschauungsfreiheit geben soll. Auch den Fortbestand des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, für den die Kirchen sich eingesetzt haben, ist zu begrüßen. Damit wird deutlich, dass der Zusammenhalt in der einen Welt, die Bekämpfung von Hunger und Armut hervorgehobene Ziele der Bundesregierung bleiben. Diese Anliegen sind den Kirchen besonders wichtig. Das gilt auch für migrationspolitischen Vorhaben, bei denen wir wachsam bleiben werden, insbesondere mit Blick auf das Thema Familiennachzug und legale Zugangswege für Schutzsuchende. Natürlich sehen wir auch einiges mit Sorge. Für das Lieferkettengesetz zum Beispiel, das jetzt abgeschafft werden soll, hatte die EKD sich sehr engagiert. Wir sind nach wie vor der Überzeugung, dass große Unternehmen menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflichten entlang der gesamten Wertschöpfungskette einhalten sollten. Insgesamt aber gilt: Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit Regierung und Opposition in der neuen Legislaturperiode. Sie ist Teil unseres evangelischen Beitrags zum Gemeinwohl.
Wie schätzen Sie es ein, dass im neuen Koalitionsvertrag im Vergleich zur vorherigen Ampel-Regierung weder die historischen Staatsleistungen an die Kirchen noch eine mögliche Ablösung dieser Zahlungen erwähnt werden? Auch das kirchliche Arbeitsrecht bleibt unerwähnt. Bedeutet dies aus Ihrer Sicht, dass diese Punkte unverändert bestehen bleiben?
Davon gehe ich aus.

Wie erklären Sie es sich, dass im neuen Koalitionsvertrag, obwohl eine Partei mit ‚christlich‘ im Namen beteiligt ist, die Kirche nur an wenigen Stellen erwähnt wird? Welche Bedeutung messen Sie dieser begrenzten Präsenz der Kirche im politischen Kontext bei?
Zu Recht würdigt der Koalitionsvertrag den Beitrag, den die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften zum gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten. Gemessen an der Länge des Vertrages und der Würdigung anderer Lebensbereiche ist das auf etwas knappe Weise geschehen. Wir wissen aber, dass die Parteien, die in Zukunft die Regierung stellen wollen, eine grundsätzlich sehr wohlwollende Haltung zur Religionsausübung und zum bewährten Religionsverfassungsrecht haben. Die Kirchen werden im politischen Kontext – das merke ich an meinen vielen Gesprächen – immer noch gut wahrgenommen.