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Whisky, Wahn und Werwölfe – Dramatische Wochen in Aachen

Am 21. Oktober 1944 fiel Aachen an die Alliierten. Sie hatten damit in der Endphase des Zweiten Weltkriegs die erste deutsche Großstadt in der Hand. Doch gewonnen war damit noch nicht viel.

Nach mehr als einer Woche voller Kämpfe und Bombardierungen überbringen US-Gesandte den Deutschen ein Kapitulationsultimatum
Nach mehr als einer Woche voller Kämpfe und Bombardierungen überbringen US-Gesandte den Deutschen ein KapitulationsultimatumImago / Gemini Collection

Zum Schluss halfen angeblich drei Gläser Whisky nach. Die schenkte der US-amerikanische Lieutenant Colonel John T. Corley am 21. Oktober 1944 dem deutschen Oberst Gerhard Wilck ein. Erst danach habe der Kommandeur der Kampfgruppe Aachen in die Kapitulation eingewilligt, vertraute Corleys Sohn Michael 2019 der Aachener Zeitung an. Vor 80 Jahren fiel damit die erste deutsche Großstadt in die Hände der Alliierten. Psychologisch gesehen ein “enorm wichtiger Erfolg” für die Gegner des NS-Regimes, wie der Leiter des Aachener Stadtarchivs, Rene Rohrkamp, festhält.

Gewonnen war der Zweite Weltkrieg damit allerdings noch nicht. Im nahe gelegenen Hürtgenwald tobten verlustreiche Kämpfe zwischen Amerikanern und Deutschen, die Ardennen-Offensive der Wehrmacht stand erst noch bevor. Und bis zur Einnahme der nur 70 Kilometer weiter westlich gelegenen Metropole Köln sollte es über fünf Monate dauern, bevor die Kämpfe in Europa am 8. Mai 1945 mit der Kapitulation der Deutschen dann endgültig endeten.

Alliierten in Aachen: Chaotische Szenen in der Stadt

Auch um Aachen wurde erbittert gerungen. Noch im Zerfall zeigten sich die Beharrungskräfte des NS-Regimes. Zugleich wurde die Stadt zu einem Experimentierfeld für einen Neuanfang nach den zwölf Jahren von Adolf Hitlers “Tausendjährigem Reich”. Am 12. September hatte man mit der Evakuierung begonnen, die wegen des Artilleriebeschusses und wiederholter Fliegerangriffe in ein heilloses Durcheinander mündete, wie der britische Historiker Ian Kershaw festhält. Abertausende versuchten, die Stadt zu verlassen. Am Abend nahmen dann Parteifunktionäre, Gestapo, Polizei und Feuerwehr überstürzt Reißaus.

Zivilisten in Aachen mussten erfahren, was es bedeutet, angesichts einer vorrückenden Armee Heim und Besitz zu verlieren
Zivilisten in Aachen mussten erfahren, was es bedeutet, angesichts einer vorrückenden Armee Heim und Besitz zu verlierenImago / United Archives International

Mitten in diesem Chaos traf ein Vorauskommando der 116. Panzerdivision unter General Gerd Graf von Schwerin ein. Bis zu 30.000 Menschen sollen sich damals noch in der Stadt aufgehalten haben. Weil er keine Ansprechpartner mehr vorfand und mit der baldigen Einnahme Aachens durch die Amerikaner rechnete, hinterließ er eine auf Englisch verfasste Nachricht, dass er die “dumme Evakuierung” der Bevölkerung gestoppt habe.

“In der wankelmütigen Nachkriegserinnerung verwandelte man Schwerin in den ‘Retter von Aachen'”, so Kershaw. Doch in Wirklichkeit habe dieser keinem Befehl getrotzt oder einen humanitären Akt vollzogen. Vielmehr führte der Befehlshaber laut dem Historiker das aus, “was er in Übereinstimmung mit den militärischen Forderungen des Regimes als seine Pflicht ansah”.

Letzte Durchhalteparolen blieben erfolglos

Weil die Amerikaner ihren Vormarsch kurzfristig stoppten, konnten sich die Deutschen neu sortieren. Der eigentliche Kampf um Aachen begann. Noch am 19. Oktober ließ Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt den Kampfkommandanten Wilck daran erinnern, “daß er Aachen bis zum letzten Mann zu verteidigen hat und im Bewußtsein der Bedeutung der alten deutschen Kaiserstadt erforderlichenfalls unter ihren Trümmern untergehen muss.”

Postwendend hieß es im Tagesbefehl von Wilck: “Die Kampfgruppe von Aachen rüstet sich zu ihrem letzten Kampf. Auf engstem Raum zusammengedrängt wird sie sich gemäß dem Befehl des Führers bis zum letzten Mann, bis zu letzten Granate und bis zur letzten Patrone verteidigen.” Zwei Tage und drei Whiskygläser später fiel der Vorhang für Wilck und die bei ihm verbliebenen 300 Soldaten.

Amerikanische Soldaten ruhen sich vor Aachen aus
Amerikanische Soldaten ruhen sich vor Aachen ausImago / GRANGER Historical Picture Archive

Die Amerikaner machten sich umgehend an den Aufbau einer neuen Verwaltung. Bei der Suche nach geeigneten Kandidaten sollte ihnen auch der katholische Bischof von Aachen, Johannes Joseph van der Velden, helfen. Der hatte sich in einem Kellerversteck dem Zugriff der Gestapo entzogen. Gegenüber einem Gesandten betonte der Bischof laut Protokoll der Unterredung wortreich, dass die Nazis nur eine “dünne Oberschicht der Bevölkerung” seien. Auch verbürgte er sich für die “Anti-Nazi-Gesinnung” von 997 der in seinem Bistum tätigen 1.000 Geistlichen. “Die drei Ausnahmen sind, wie er es bezeichnet, leicht psychische Fälle, die er nicht ungern in einem Irrenhaus sähe.”

Oppenhoff blieb nur kurz Aachens Bürgermeister

Für die Position des Oberbürgermeisters empfahl van der Velden unter anderen Franz Oppenhoff, einen bekennenden Katholiken und ehemaligen Rechtsbeistand des Bistums sowie jüdischer Firmen. Oppenhoff nahm die Herausforderung an und wurde am 30. Oktober 1944 gewählt und vereidigt. Doch lange sollte seine Amtszeit nicht währen. Am 25. März 1945 wurde Oppenhoff von SS-Feldwebel Joseph Leitgeb erschossen.

Leitgeb war Mitglied eines Kommandos, das von höchster Stelle auf die Ermordung des Oberbürgermeisters angesetzt war. Offenbar wollte Heinrich Himmler mit der Aktion die Schlagkraft der kurz zuvor gegründeten “Werwolf”-Guerilla unter Beweis stellen, die hinter den feindlichen Linien den Gegner demoralisieren sollte. Auch wenn der Wirkungsgrad der “Werwolf”-Gruppen sehr begrenzt blieb: Eine zeitlang geisterte unter den Alliierten die Vorstellung herum, in den von ihnen eroberten Gebieten könnten vor allem fanatische Hitlerjungen hinterrücks angreifen.