Zum 150. Geburtstag steht Thomas Mann derzeit im Fokus. Sein älterer Buder Heinrich besaß einen scharfen Blick auf das aufziehende Unheil des Nationalsozialismus. Sein Werk lässt sich als Warnung für die Gegenwart lesen.
“Demokratie ist im Grunde die Anerkennung, daß wir, sozial genommen, alle für einander verantwortlich sind”: Dieser Satz stammt nicht aus einer aktuellen Rede des Bundespräsidenten oder eines Bischofs. Er ist fast 100 Jahre alt – geschrieben hat ihn Heinrich Mann. Sein literarisches Werk wird überstrahlt von jenem seines jüngeren Bruders Thomas – doch die Romane Heinrichs entfalten nicht nur auf erzählerischer Ebene einen Sog. Die Stimmung, die er einfängt und seziert – allen voran in “Der Untertan -, ist beklemmend aktuell. Am 11. März 1950, vor 75 Jahren, starb der Schriftsteller in Santa Monica.
Geboren 1871 in Lübeck, schrieb Heinrich Mann als Jugendlicher erste Novellen und Gedichte. 1889 begann er eine Buchhändlerlehre, neben Volontariat und Studium verfasste er Zeitungsartikel. 1894 erschien sein erster Roman, “In einer Familie”. Ab 1895 lebte er vor allem in Italien, zeitweise mit Bruder Thomas zusammen.
1905 erschien mit “Professor Unrat” eines seiner bekanntesten Werke. Mann nimmt die Verkommenheit der Gesellschaft aufs Korn, und zentrale Themen seines Werks spielen bereits eine Rolle: Menschenfeindlichkeit, wenn auch eher unter satirischen Aspekten, und das Verhältnis zwischen Tyrann und Untertanen. 1930 wurde der Roman verfilmt. “Der blaue Engel” mit Emil Jannings und Marlene Dietrich war einer der ersten Tonfilme überhaupt – und gilt trotz harscher Kritik der Zeitgenossen als Meilenstein der Filmgeschichte.
Zuvor hatte der Erste Weltkrieg zu einem Zwist zwischen den Mann-Brüdern geführt. Thomas unterstützte den Krieg, Heinrich war dagegen. Den Streit trugen sie über Essays aus; über Jahre hatten beide keinen persönlichen Kontakt. 1918 gipfelte die Auseinandersetzung in Thomas Manns “Betrachtungen eines Unpolitischen”, ein bis heute umstrittener Text, von dem er sich bald distanzieren sollte. Erst 1922 näherten sich die Brüder wieder an. Enger verbunden war Heinrich seinem Neffen Klaus, der mit Romanen wie “Der fromme Tanz” und “Mephisto” ebenfalls bekannt wurde.
Zu Beginn des Krieges musste Heinrich Mann die Veröffentlichung von “Der Untertan” abbrechen. 1918 erschien die erste Buchausgabe: Blinde Machtverliebtheit, der Rausch der Masse, Halt- und Haltungslosigkeit – diese Themen sollten im 20. Jahrhundert eine schreckliche Rolle spielen. Schriftsteller-Kollege Kurt Tucholsky erklärte, die Hauptfigur Diederich Hessling sei kein Faschist, habe aber das Zeug dazu. Er verkörpere den “deutschen Machtgedanken” und stehe stellvertretend für die “kleinen Könige, wie sie zu Hunderten und Tausenden in Deutschland leben und lebten”.
Bis heute wird das Werk an Schulen gelesen, und die beiläufige Verachtung vieler Figuren etwa gegenüber jüdischen Mitmenschen bleibt erschütternd. Zum Beispiel diese Szene aus der Schulzeit Diederichs: Auf einem Pult errichtet er ein Kreuz und zwingt den einzigen Juden der Klasse, davor niederzuknien. Stark fühlt er sich durch den Beifall der Umstehenden, als handle durch ihn “die Christenheit von Netzig”, seiner fiktiven Heimatstadt.
Diesem wegweisenden Werk war indes eine wechselvolle Geschichte vorangegangen. Als junger Mann gab der Autor eine radikal antisemitische Zeitschrift heraus, verfasste auch eigene klischeehafte Beiträge. Später bezeichnete Mann die Zeitschrift als “reaktionäres Wurschtblatt” und wandte sich der Sozialdemokratie zu. Nachdem er 1933 einen Aufruf zur Einigung von SPD und KPD unterzeichnet hatte, wurde er aus der Akademie der Künste ausgeschlossen und ging ins Exil nach Nizza.
Von dort veröffentlichte Mann historische Romane; 1940 floh er in die USA. Das Land blieb ihm jedoch stets fremd, und zehn Jahre später sollte er dort einsam sterben. Im Vorjahr hatte sich sein Neffe Klaus das Leben genommen, wie schon seine Schwestern Clara (1910) und Julia (1927) sowie 1944 seine zweite Ehefrau Nelly. 1961 wurde die Urne Heinrich Manns nach Deutschland überführt: Die Grabstätte auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Ost-Berlin zählt zu den Ehrengräbern des Landes.