Zur Reformation gehörte die scharfzüngige Auseinandersetzung der theologischen Gegner. Das Aufblühen des Buchdrucks eröffnete neue Möglichkeiten der Auseinandersetzung. Dialoge wurden geschrieben und publiziert, Satiren und Parodien in teilweise erbitterter Schärfe und Polemik, an Massen gerichtet und daher massenwirksam. Es fand, wenn man so will, eine Demokratisierung der Debattenkultur statt.
Die katholische Kirche tat sich noch lange schwer mit dieser Umstellung, aber einen, der es der reformatorischen Seite gleichtat und ihr in seinem wichtigsten Werk „Vom großen lutherischen Narren“ ebenbürtig war, hatte sie eben doch: den Franziskanerpriester und Doktor der Theologie Thomas Murner.
Er wurde 1475 in Oberehnheim, heute Obernai in Frankreich, geboren, besuchte im nahen Straßburg eine Klosterschule und trat mit 15 Jahren dem Franziskanerorden bei. An verschiedenen Universitäten studierte er Philosophie, Theologie und Jurisprudenz, promovierte zum Magister der freien Künste in Freiburg und Doktor der Theologie in Krakau. Mit 22 Jahren wurde er zum Priester geweiht.
Ab 1512 erschienen seine ersten satirischen Hauptwerke, in denen er Missstände des feudalen Systems, aber auch der Kirche anprangerte. Murner war also kein betriebsblinder Verteidiger des alten Glaubens, im Gegenteil, er sah die Gefahr, in der sich eine Kirche, die losgelöst von den Problemen der Menschen agierte, befand. Auch er wollte Reformen, aber er wollte eines nicht, nämlich die Spaltung. Als Martin Luther mit seinen Thesen kam, erkannte er schon früh diese Gefahr, die die katholischen Würdenträger noch lange nicht sahen. Er bezog Stellung und nahm dafür in Kauf, was auch viele Reformatoren erdulden mussten, nämlich Verfolgung, Ausweisung, Schreibverbot und einmal, als Bauern seine Heimatstadt belagerten, Gefahr für sein Leben. Im letzten Augenblick gelang ihm die Flucht.
Zuerst ist Murner in seinem Umgang mit Luther noch sehr moderat. 1520 erschien seine Schrift „Christliche und briederliche ermanung an den hoch gelerten doctor Martino Luter“, in dem er „den herzallerliebsten Bruder in Christo“ bittet, von seinen Irrtümern abzulassen und sich wieder mit der Kirche zu vereinigen.
Luther nahm ihn anfangs nicht ernst, Murner war nur einer von vielen Gegnern. Aber als Murner nach Luthers Verbrennen der Bannandrohungsbulle „Exurge domine“ (Erhebe dich, Herr) mit einer Glosse antwortet, fügt Luther in einer Verteidigungsschrift gegen einen anderen Gegner einen Anhang gegen Murner hinzu.
Anfangs nahm Luther Murner nicht ernst
Die Antwort kam in Form des „Großen lutherischen Narren“, der alle erprobten und erfolgreichen Formen reformatorischer Schriften aufgriff, Satire, Glosse und vor allem wüste Polemik. Das Werk besteht aus 4800 Versen mit volkstümlichen Reimen. Wenn Murner am Anfang auch betont, dass er nicht Luther direkt angreifen wolle, sondern vor allem seine eigenen Gegner, so lässt er diese Absicht schnell fallen. Am Ende geht es nur noch gegen Luther. Dessen Gegner, der ihn widerlegen und als gefährlich darstellen will, ist niemand anderer als Murner selbst, wodurch die Reformation auf Luther reduziert wird, die Angriffe gegen die katholische Kirche als Angriffe auf Murner wahrgenommen werden. Eine Personalisierung des Problems findet also in Murners Buch statt.
Im Mittelpunkt steht der große Narr, der durch Exorzismus beschworen werden muss. In ihm stecken viele andere Narren, die alle möglichen Aspekte der Reformation verkörpern, etwa die Gefahr durch aufständische Bauern, vor der Murner besonders warnte.
Der beschworene „Großnarr“ gibt seine Geheimnisse anfangs nur unter Zwang preis, später wird er vertrauensselig und warnt seinen Beschwörer sogar vor den in ihm steckenden Narren. Der Exorzist, der mit Katzenkopf auftritt, hat ebenfalls keine einheitliche Haltung, mal ist er fürsorglich, mal zornig. Der Katzenkopf symbolisiert Murner selber, denn so haben ihn seine Gegner in ihren Pamphleten dargestellt, und indem er ihnen nun darin folgt, zeigt er eine gehörige Portion Selbstironie.
Luthers Leiche in der Latrine
Es geht bunt zu in diesem Buch, Exorzismus, Hochzeit Murners mit Luthers Tochter, am Ende sterben Luther und der große Narr. Und Luthers Leiche wird in einer Latrine versenkt, scheinheilig von vielen Katzen beweint, also, wenn man so will, von vielen kleinen „Murners“. Luther tot, Reformation entlarvt und vernichtet: Das Buch schafft das, was in Wirklichkeit eben nicht gelingt.
Etwas verbiegen musste sich Murner allerdings. Er hatte in früheren Schriften eine sozialkritische Tendenz verfolgt, hatte die Probleme der feudalen Gesellschaft durchaus gesehen. Nun kämpfte er für die alten Mächte. Da die Missstände jedoch offensichtlich waren, konnte er, um glaubwürdig zu bleiben, es sich nicht erlauben, die von den Reformatoren genannte Sozialkritik zu leugnen. Vielmehr versuchte er, sie zu bagatellisieren. Er kennzeichnet sie als perspektivlos und ohne sinnvolle Zielrichtung. Allenfalls, meint er, könne daraus eine Ordnung entstehen, in der die Reformatoren eigennützige Ziele verfolgen: Aus Veränderung könne nur Chaos entstehen, meint Murner, und davor warnt er.
Im Widerspruch zur eigenen Sozialkritik
Das Buch wurde schon kurz nach Erscheinen verboten, man begriff schnell seine Sprengkraft, und Murner erging es nicht gut. In Straßburg, das den reformatorischen Ideen zuneigte, durfte er sich nicht sehen lassen, er musste nach Luzern ausweichen, wo er Aufnahme fand und nach neueren reformatorischen Streitigkeiten ebenfalls ausgeliefert werden sollte. Also erfolgte die nächste Flucht, bis er schließlich wieder in seinem Geburtsort landete, wo er 1537 starb.