Angefangen hat diese außergewöhnliche Familiengeschichte im Flüchtlingsjahr 2015, als 1,3 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland kamen. „Das war der Anfang unserer ganz persönlichen Weihnachtsgeschichte“, sagt Karin van Tholen. Sie und ihr Mann Johannes organisierten mit anderen Helfern eine Nikolausfeier für minderjährige Flüchtlinge in einem kirchlichen Heim in Regensburg. Vier der Jungen berührten sie in besonderer Weise: „Ohne dass wir jemals darüber nachgedacht hatten, wussten mein Mann und ich ganz tief in uns, dass diese vier jungen Menschen zu uns gehören – zu unserem Leben, zu unserer Familie, zu uns als Eltern.“
Das „wahre Wunder“ aber sei gewesen, dass diese Buben es genauso empfunden hätten, auch ihre Kinder, und sie so zu einer multikulturellen Familie zusammenwachsen konnten. „Als ich zu ihnen ins Haus gekommen bin, hatte Mama für mich das Zimmer hergerichtet. Und genau da habe ich das Gefühl gehabt: Das ist jetzt wirklich auch meine Familie“, erzählt Razak (24), der mit 15 Jahren aus dem Bürgerkriegsland Syrien geflüchtet ist. Er hatte eine schlimme Zeit hinter sich, als er in Regensburg ankam. „Und dann war da ein Gefühl von Wärme, das mich an meine Familie in der Heimat erinnerte.“
Razak, Moussa, Abdullah und Alassane wurden nicht nur Pflegekinder, sondern adoptiert – in aller Konsequenz. Auch finanziell machen die van Tholens keinen Unterschied zwischen ihren leiblichen und adoptierten Kindern. Heute sind sie eine deutsch-niederländische Großfamilie mit acht Kindern aus sechs Nationen und drei Kontinenten. Vor wenigen Wochen konnten sie ihren Sohn aus Guinea offiziell adoptieren. „Das größte Weihnachtsgeschenk überhaupt“, sagt Karin van Tholen.
Ihre gemeinsame Reise startete Weihnachten 2015: Wintersachen, Sportvereine, Impfungen, Schulen, Sprachkurse, das allermeiste sei schnell organisiert gewesen, erinnert sich Karin van Tholen. „Wir haben uns einfach keine Gedanken gemacht, wo dieser Weg hinführt. Wir haben von Tag zu Tag agiert und Bedürfnisse abgefragt.“ Sie sei das pragmatisch angegangen: Die Töpfe wurden größer, die Einkaufswagen voller, und ihre damals 92-jährige Mutter meinte auf die Mitteilung, dass sie nun vier Enkel mehr habe: „Wir streichen Schweinefleisch und brauchen einen größeren Tisch.“
Auch für Johannes van Tholen, einen Unternehmensberater niederländischer Herkunft, war es keine große Umstellung, sagt er. Selbst in einer Großfamilie aufgewachsen, kenne er nichts anderes, als in einem „offenen Haus“ zu leben, in dem „sechs, sieben oder zehn Personen am Tisch sitzen“.
Seine vier neuen Kinder kommen aus vier verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Sprachen. Nachdem sich nach Sprachkursen alle untereinander auf Deutsch verständigen konnten, ging es in den Gesprächen um Essensmanieren, um den Umgang mit Mädels und Frauen, um den Sprachgebrauch. „Wir alle mussten uns darauf besinnen, was uns im Umgang wichtig ist.“ Das sei für alle Seiten sehr bereichernd gewesen, sagt er.
Aber es gab auch schwierige Zeiten: Behördengänge, Anhörungen und Befragungen, um die Abschiebung der Kinder zu verhindern. „Es gab Momente, wo ich dachte, ich schaffe es nicht mehr“, sagt Karin van Tholen. Doch wie durch ein Wunder habe sie immer wieder neue Kraft gefunden. Mit ihrem Mann und den Kindern an der Seite habe sie gewusst, sie könne „Berge versetzen“. Am Anfang hätten sie natürlich nicht gewusst, dass diese Großfamilie ihre Lebensaufgabe werden würde. Aber letztlich sei sie das geworden, sagt Karin van Tholen. Als sei da „etwas Göttliches im Spiel“ gewesen, das sie durch jeden Tag getragen habe.
Im Frühjahr dieses Jahres trafen sie sich zum ersten Mal mit Razaks Ursprungsfamilie. Das Treffen fand in Jordanien statt, weil die Verhältnisse in Syrien es nicht zuließen. „Es war einer der berührendsten Momente in unserem Leben.“ Die beiden Mamas seien sich bei ihrer Begegnung in die Arme gefallen. Und Razaks Vater, der seinen Sohn seit neun Jahren nicht gesehen hatte, sei überwältigt gewesen. Da hätten sie gemerkt: „Überall auf der Welt sind wir eine Familie, wir sind Mamas, Papas, Schwestern und Brüder.“
Bis heute verstehen nicht alle Menschen, warum sie weitere vier Kinder adoptiert hätten, noch dazu aus dem Mittleren Osten, aus Westasien und Afrika. Anders als 2015 ist mittlerweile das Klima für multikulturelle Familien in Deutschland merklich abgekühlt. Andere wiederum sagten ihnen, diese Kinder hätten aber Glück gehabt. Karin van Tholen blickt verständnislos drein: „Wir hatten Glück, denn die Kinder sind unser Glück. Wir sind mit den Kindern über uns hinausgewachsen.“ (00/3990/18.12.2024)