UK 5/2019, Holocaust-Gedenktag (Leitartikel Seite 1: „Mutig zurückblicken“)
Ja, ich blicke mutig zurück, ich sehe die Verbrechen, die Deutschland begangen hat. Ich sehe die Leichenberge. Solche Verbrechen dürfen in Deutschland nie wieder geschehen.
Aber ich sehe auch noch ein anderes Bild, was aus Hass und Gewalt geschehen ist, und was ich nicht vergessen kann. Das ist das Leid vieler deutscher Frauen und Mädchen zum Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg. Am 4. März 1945 ging ein Transport von Insterburg in Ostpreußen nach Russland. Es waren etwa 40 Viehwaggons. In jedem Waggon waren 55 bis 60 Personen, gesamt etwa 2000 Menschen. In diesem Transport waren sehr viele Frauen, Jugendliche, alte Männer und deutsche Kriegsgefangene. Es gab viele Tote während des Transports, besonders viele Frauen. In der Nähe von Tula, südlich von Moskau, haben wir etwa 200 Tote auf einem Bahndamm in den Schnee geworfen. Als wir am 27. März in Nischni Tagil im Ural ankamen, hatten wir wieder etwa 200 Tote, auch wieder viele Frauen.
Wir kamen in das Lager 153/4. Jeden Tag gab es Tote, an manchen Tagen über 30, auch wieder viele Frauen. Mit zwei Mann und einem russischen Posten haben wir die ausgemergelten, nackten Leichen mit zwei Panjewagen zu den Massengräbern gebracht und dort in die Gruben geworfen. Wenn sich zu viele Leichen im Schuppen angesammelt haben, dann wurden sie auf einen LKW geladen, der sie zu den Gräbern brachte. Bis zu meiner Verlegung im Juli 1945 in ein anderes Lager waren im Lager 153/4 etwa 1000 Menschen gestorben, überwiegend Frauen.
Mein Bericht soll keine Relativierung der deutschen Schuld sein. Aber ich bin der Meinung, wir sollten besonders nicht das Leid der deutschen Frauen und auch der deutschen Zwangsarbeiter ausblenden. Ich bin für eine Versöhnung über den Gräbern, besonders mit Russland.
Alfred Losch, Bochum
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