Von Jürgen Engelhardt
Die Hilfsbereitschaft ist riesig, beeindruckend. Wer während des Lockdowns nicht die Wohnung verlassen kann, dem werden Lebensmittel und Medikamente vor die Tür gestellt. Als die Fluten im Ahrtal und im Berchtesgadener Land Familien und Häuser zerstören, brechen Menschen dorthin auf, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen, andere spenden Kleidung und Geld. Während des Ukrainekrieges rücken die Menschen zusammen, machen Platz für Geflüchtete und spenden wiederum beachtliche Summen an Geld und Sachspenden.
All dies erwächst aus dem großen Bedürfnis heraus zu helfen, Gutes zu tun und einer tiefen Sehnsucht danach, dass bald alles irgendwie wie früher sein möge. Nach den Fluten im Ahrtal begannen wir zu ahnen, dass vielleicht doch nicht alles so sein wird wie früher. Der Krieg in der Ukraine sei eine „Zeitenwende“, formulierte es Bundeskanzler Olaf Scholz. „Danach“ werde nichts mehr so sein wie vorher. Jetzt gehe es unter anderem darum, unsere Werte durch mehr Geld für die Verteidigung zu schützen.
Ich blättere in der Begründung für meine Kriegsdienstverweigerung aus dem Jahre 1976. Achteinhalb Jahre war mein Vater in russischer Kriegsgefangenschaft. Seine Erzählungen über diese Zeit prägten meinen Entschluss, den Kriegsdienst zu verweigern. So formulierte ich damals: „Es ist für mich ein persönliches Gesetz, das Leben zu schützen, Leben zu erhalten, es aber unter keinen Umständen zu vernichten.“
Was heißt „Zeitenwende“ für mich persönlich?
„Zeitenwende“ – heißt das für mich, mein persönliches Gesetz außer Kraft zu setzen, es zumindest zu überdenken? War ich naiv zu glauben, dass ein „nie wieder Krieg“ nur durch Pazifismus erreichbar ist? Ist es falsch, sich auch dann aus militärischen Konflikten herauszuhalten, wenn jemand um Hilfe bittet, um sich verteidigen zu können?
Eine Krise jagt die nächste. Ich frage mich, warum schützt mich meine Regierung nicht davor? Dazu ist sie doch da! Habe ich mich zu sehr darauf verlassen, dass das immer klappen wird? Ohne mein Mitwirken? Habe ich mich zu sehr auf die Autonomie meines Daseins konzentriert, auf mein Wohlbefinden? War mir das „Ich“ wichtiger als das „Wir“?
Mir wird bewusst, wie selbstverständlich ich das Gute, das Angenehme genossen habe. Die Zerbrechlichkeit des Ganzen habe ich nicht wahrhaben wollen. Bisher ist doch immer alles gut gegangen. Damit bin ich nicht allein. Unsere brüchigen, verzagten Reaktionen auf Pandemie, Flut und Krieg zeigen es. Bedeutet das, dass zur Verteidigung unserer Demokratie auch Waffen gehören? Dass wir den Regierenden klar sagen, dass wir keine Waffenexporte in Diktaturen mehr wollen und bereit sind, die damit verbundenen wirtschaftlichen Verluste hinzunehmen? Dass wir bereit sind, auf Gasimporte aus Russland zu verzichten, auch wenn uns das sehr große Nachteile beschert? Heißt das, dass es nicht reicht, „nur“ zu helfen, „nur“ zu spenden?
Gemeinsam Antworten suchen im Glauben an die Zukunft
Die Antworten fallen mir nicht in den Schoß. Nur ein Miteinander-Reden wird Lösungsräume eröffnen. Wann? Jetzt, denn die Antworten sind Bausteine für das Leben, den Wiederaufbau nach dem Krieg, der Flut, der Pandemie. Als Zeichen dafür, dass wir auch wirklich an ein „Danach“ glauben und entsprechend handeln.
Wo? Überall, auch in Kirchen, in christlichen Gemeinden und auf diese Weise dafür sorgen, dass kleine „Denkstätten“ entstehen. Orte solidarischer Gemeinschaft, in der das gemeinsame Suchen nach Antworten in Partizipation stattfindet. Orte, an denen wir einander unsere Ängste zeigen können. Lasst uns vor allem die einladen, die wie Beckmann im Stück „Draußen vor der Tür“ von Wolfgang Borchert rufen: „Wo ist denn der alte Mann, der sich Gott nennt? Warum redet er denn nicht!! Gebt doch Antwort!“
Kein origineller Vorschlag, doch es ist ein Anfang. Denn wir müssen neben all dem notwendigen Helfen jetzt nach Antworten suchen, damit es eine – wenn auch ungewisse – Zukunft geben kann.
Jürgen Engelhardt ist Landessynodaler und Mitglied im Kreiskirchenrat des Kirchenkreises Berlin-Nordost.