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Umkehr und Versöhnung

Maximilian Feldhake, Rabbiner in Celle, und Kathrin Oxen, Pfarrerin in Berlin, im Gespräch über Jom Kippur beziehungsweise Buße und Abendmahl

Begleitend zur Kampagne „#beziehungsweise: jüdisch und christlich – näher als du denkst“ veröffentlicht „die ­Kirche“ jüdisch-christliche ­Interviews. Im September spricht Andreas Goetze, Landeskirchlicher Pfarrer für den Interreligiösen Dialog, zu Jom Kippur beziehungsweise Buße und Abendmahl mit dem Rabbiner Maximilian Feldhake und ­Pfarrerin Kathrin Oxen über ­Besinnung, Umkehr, die offene Tür zum Himmel und den Geschmack des Reichs Gottes. 

Herr Rabbiner Feldhake, warum beginnt das jüdische Neujahr ­eigentlich im Herbst?

Feldhake: Mit dem Neujahrsfest Rosch ha-Schana, „Kopf des Jahres“, beginnt das jüdische Jahr stets im September/Oktober am 1. und 2. Tischri nach dem jüdischen Kalender, in diesem Jahr der 7. und 8. September. Das Datum hängt mit dem Beginn des Agrarwirtschaftlichen Jahres zusammen. Es gibt übrigens noch drei weitere Neujahre: Neujahr für die Könige, Neujahr für die Bäume und Neujahr für die Tiere.

10 Tage später, am 10. Tischri, ist Jom Kippur, der Versöhnungstag. Was bedeutet diese Zeit für die Beziehung zwischen Gott und Mensch?

Feldhake: Die Zeit zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur nennen wir die zehn ehrfurchtsvollen Tage, hebräisch: Jamim Noraim. Primär geht es in diesen Tagen um meine Beziehung zu meinen Mitmenschen. Habe ich bewusst oder unbewusst Menschen in meinem Umfeld verletzt? Wie kann ich das wieder gutmachen? Ein weiteres zentrales Thema ist: Wir leben nicht ewig. Einige von uns werden nächstes Jahr nicht mehr da sein, dann ist Versöhnung nicht mehr möglich. Davon ist in dem berühmten jüdischen Pijut (Gebet), Unetaneh Tokef, die Rede. Wer wird nächstes Jahr noch sein? Im Grunde genommen geht es darum.

Frau Pfarrerin Oxen, ist das Abendmahl ein Buß-Fest?

Oxen: Beim Abendmahl ist der Bezug zur Buße gegenüber der Feier der Gemeinschaft und Erinnerung in den Hintergrund getreten. Das Thema Buße wird, anders als im Judentum, am Jahresende bedacht. Wir begehen drei ernste Tage: den vorletzten Sonntag des Kirchenjahres, auch Volkstrauertag, den Bußtag und den Ewigkeitssonntag. Dass im Judentum diese Tage der Buße und der Hoffnung auf Versöhnung am Anfang des Jahres stehen, ist eine schöne Vorstellung: Man kann entlastet in das neue Jahr starten. 

Buße weckt oft negative Assoziationen. Wo liegt der Schatz, Buße ablegen zu dürfen und umkehren zu können?

Oxen: Für mich ist das die Verheißung des Neuanfangs: Dass es möglich ist, etwas hinter sich zu lassen. Oft schleppt man ungelöste Konflikte und eigene Schuld mit sich herum. Aber wenn du es dir eingestehst und es bereust, gibt es auch einen neuen Anfang. 

Was ist Jom Kippur eigentlich, der große Versöhnungstag?

Feldhake: Tatsächlich ist das der ehrfurchtsvolle Tag des Gerichts. ­Judentum ist eine heitere Religion. Am Jom Kippur ist das anders. Wir fasten 25 Stunden, verzichten auf ­Lederschuhe, Parfüm, auf Sex, Essen und Trinken, Duschen. Alles, was am Schabbat verboten ist, ist auch am Jom Kippur verboten und noch etwas mehr. 

Wie drückt sich das liturgisch aus?

Feldhake: Die Liturgie ist bewegend und großartig. Du kannst nichts anderes tun außer: dich besinnen. Du sitzt in der Synagoge, betest unzählige liturgische Gebete, Pijutim. Du kannst nichts anderes machen an Jom Kippur außer dich fragen: Was habe ich getan? 

Welche Rolle spielt das Kol Nidre Gebet in dieser Liturgie?

Feldhake: Das Kol Nidre, „alle Gelübde“, ist ein Widerruf aller Gelübde, Eide und Versprechungen gegenüber Gott, die unwissentlich oder unüberlegt von jetzt an im nächsten Jahr abgelegt werden. Man braucht nur die ersten klagenden Töne zu hören, dann spürt man sofort die Stimmung von Jom Kippur. 

Inwiefern kann das Abendmahl ein Versöhnungsfest sein? 

Oxen: Wenn wir zu diesem Tisch kommen und alles zurückbleibt, was uns von anderen und von Gott trennt. Dieses bedingungslose Kommen-dürfen hat mit Umkehr und Versöhnung zu tun. In meiner reformierten Tradition ist das Abendmahl eine Erinnerung an die Tischgemeinschaften Jesu mit Zöllnern und ­Sündern. Alle waren willkommen.  Niemand wurde gefragt, was er ist oder getan hat. Wenn wir beim Abendmahl jeden mit seinen Unzulänglichkeiten willkommen heißen, strahlt das Versöhnung aus. 

Welche Elemente des Abendmahls würden Sie heute stark machen?

Oxen: In unserer Kirche stehen wir im Kreis und feiern in Corona-Zeit mit Einzelkelchen, obwohl uns das eigentlich widerstrebt. Wir feiern unsere Gemeinschaft, die Gegenwart und die Erinnerung an Jesu Mahl, seine Reinszenierung und die Feier als Hoffnung auf das große Freudenmahl. Manchmal bildet die Liturgie diesen Weg ab: Erinnern, Feiern, Ausblick auf die Zukunft. 

Wo können Sie da anknüpfen oder setzen Sie im Judentum noch ­andere Akzent bei Jom Kippur?

Feldhake: Teschuwa, Umkehr, ist ein zentrales Thema im Judentum. Aber Sünde und Buße verstehen wir ganz anders. Es ist wünschenswert, dass man für die Sünde Buße tut, aber es ist nicht unbedingt erforderlich. Wir sind alle fehlbare Menschen. Es geht um einen Prozess im Leben, sich ständig zu prüfen. 

Nimmt der Begriff Teschuwa ­diesen Prozess auf?

Feldhake: Ja. Umkehr zu Gott ist nicht nur auf Jom Kippur beschränkt. Das kann an jedem Tag erfolgen. ­Umkehr hat mit der Ausrichtung des Lebens zu tun. Wir beschäftigen uns viel zu wenig mit den Fragen: Wer bin ich, wie verhalte ich mich, was kann ich tun, um das zu verbessern? Deswegen legen wir am Jom Kippur den Schwerpunkt auf diesen sehr einfachen, aber wichtigen Prozess. Um das Jenseits geht es dabei gar nicht. 

Aber entscheidet sich nicht zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur, ob man ins Buch des  Lebens eingeschrieben wird?

Feldhake: Klar, wir sagen, an Rosch Haschana wird man ins Buch des Lebens oder ins Buch des Todes eingeschrieben. Und beim Neïla, dem Abschlussgebet am Jom Kippur, wird das zu Rosch Haschana geschriebene göttliche Urteil besiegelt. Wenn sich bei diesem Gebet die geöffneten Türen des Aron ha-Kodesch, des heiligen Toraschreins, langsam schließen, bedeutet das symbolisch: Auch das Tor des Himmels schließt sich langsam. Aber die Rabbiner sagen: Das Tor ist immer offen! Wir können immer umkehren. 

Frau Oxen, welche Abendmahlsfeier hat Sie im Blick auf diesen Weg besonders berührt?

Oxen: Beim Abendmahl auf Kirchentagen finde ich immer toll, wie viel Mühe man sich macht, damit wirklich jede und jeder mitfeiern kann. Es sind so viele Menschen guten Willens beieinander mit wunderbarer Musik, alle sind fröhlich und gelöst. Ich denke besonders an das Abendmahl auf der Elbwiese in Wittenberg beim Kirchentag 2017. 

Da höre ich Festfreude, Vorgeschmack auf das Reich Gottes?

Oxen: Ja, genau. Den Opferkult im Tempel als Buße gibt es nicht mehr. Was ist stattdessen an die Stelle des Opfers im Judentum getreten?

Feldhake: Man hat aus dem Opferkult das Gebet zum zentralen Kult des Judentums gemacht. Schon beim Propheten Micha heißt es: Das Werk der Liebe ist mir viel lieber als tausend Widder (Micha 6,7+8). Die Rabbiner ersetzten den Tempeldienst, den Awoda und Korban, das Opfer, mit drei Dingen: mit der Tora, mit dem Gebet und mit guten Taten. Wir verlegen den Opferkult in die Synagoge, den Tempel im Kleinen. 

Auch wenn der Tempel nicht da ist, so habe ich doch das Gebet, die Tora und die guten Taten, mit denen ich mich mit Gott in Beziehung setze und Gott mit mir.

Feldhake: Genau. Wir reparieren die Welt in Zusammenarbeit mit Gott. Nicht nur Gott tut alles, wir sind auch verpflichtet, dabei aktiv zu werden. 

Frau Oxen, wenn das Opfer so etwas wie gottgewollte Lebenshingabe ist, kann das mit dem Abendmahl verbunden werden? 

Oxen: Unsere Abendmahls- und Passionslieder sind durchzogen von der Sühnopfer-Vorstellung. Gott muss irgendwie gnädig gestimmt werden und Jesus hat das für uns erledigt. Das ist schwer zu vermitteln. Eins der wenigen neuen Passions­lieder „In einer fernen Zeit gingst du nach Golgatha“ interpretiert Jesu Sterben für uns anders: Es enthält die Zeile „Du weißt, was Leiden ist“. Jesus erlebt stellvertretend, was wir an Leiden erleben. Gott erlebt selbst Leid und Verlassenheit am eigenen Leibe. Deswegen ist niemand von uns Menschen mit solchen Erfahrungen allein. So kann ich den Gedanken des stellvertretenden Leidens in einer neuen Interpretation verstehen. Aber dafür müsste ich 500 Jahre Abendmahlstradition abstreifen können. 

Wie würden Sie Versöhnung von Gott und Mensch beschreiben?

Oxen: Versöhnt sein ist ein Zustand, für den wir nichts tun müssen, weil er schon da ist. Weil Gott sich entschieden hat, uns das anzubieten. Wir haben es nicht in der Hand und müssen es nicht selber machen, sondern es widerfährt uns. Die Versöhnung im Abendmahl oder bei der Buße geschieht uns in der Sündenvergebung oder im Erlebnis des Abendmahls. 

Wie geschieht Versöhnung aus­ ­jüdischer Perspektive?

Feldhake: Du umarmst den, dem du Unrecht getan hast. Und du bittest ihn um Verzeihung. Für mich ist die Geschichte von der Versöhnung Jakobs mit Esau die wichtigste in der Tora, weil sie die allermenschlichste ist. Jakob hatte seinen jüngeren Zwillingsbruder um das Erstgeburtsrecht betrogen. Es geht nicht um Gott dabei, sondern um die Beziehung zwischen Brüdern. Bei Versöhnung geht es in der Tora vor allem um Menschen. Und du hast ein Problem mit Gott und mit anderen Menschen, wenn du andere schlecht behandelst.

Zum Thema „Versöhnung feiern – Jom Kippur beziehungsweise Buße/Abendmahl“ lädt „die Kirche“ zu einem Online-Dialog (via Zoom) am Mittwoch, 1. September, um 19 Uhr mit Rabbiner Maximilian Feldhake und Pfarrerin ­Kathrin Oxen. Es ­moderiert Pfarrer ­Andreas Goetze. Bitte ­anmelden unter der E-Mail-Adresse: ­dialog@wichern.de

Einen Tag vorher erhalten Sie dann die Zugangsdaten.

Versöhnung feiern

Rosch Haschana und Jom Kippur gelten als die Hohen Feiertage des Judentums, denn an ihnen werden Fragen von Leben und Tod verhandelt. „Wer wird leben und wer wird sterben?“, fragt ein bekanntes Gebet, das zum jüdischen Neujahr und zum Versöhnungstag gesagt wird. Die dazwischenliegenden Zehn Tage der Umkehr werden als eine Zeit des Gerichts verstanden, in der Gott über unsere Fehler und Versäumnisse richtet und dementsprechend ein Urteil zu einer guten oder einer düsteren Zukunft über uns verhängt. Wir bemühen uns, diesen Richterspruch zu unseren Gunsten zu beeinflussen, indem wir selbstkritisch unser Leben betrachten, unsere Verfehlungen erkennen und uns ändern.

Doch es genügt nicht, zu Gott um Vergebung zu flehen. Unrecht und Verletzungen, die wir anderen Menschen zugefügt haben, müssen wir selbst in Ordnung bringen: Zu diesen Menschen hingehen, um Verzeihung bitten und auch Verzeihung gewähren, den Schaden wiedergutmachen, steht als religiöses Gebot nicht hinter Gebet und Fasten zurück. Erst dann können wir auf Versöhnung hoffen und einen Neuanfang mit Gott, mit unseren Nächsten und auch mit uns selbst wagen.

Rabbinerin Ulrike Offenberg