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Thierse: Angst vor “Entheimatung” brachte AfD Stimmen

Warum konnte die AfD bei der Wahl so zulegen? Das ostdeutsche SPD-Urgestein Wolfgang Thierse analysiert den Wahlausgang. Und hat klare Erwartungen an einen CDU-Kanzler Merz.

Der starke Stimmenzuwachs für die AfD bei der Bundestagswahl ist nach Ansicht des früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse auch auf Angst vor Heimat- und Kulturverlust zurückzuführen. “Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft, die bunter ist. Das löst auch kulturelle Ängste aus. Dass Fremde und die Fremden rücken näher und stellen das vertraute, selbstverständliche, gewohnte in Frage. So entstehen Entheimatungsbefürchtungen”, sagte der ostdeutsche SPD-Politiker im Podcast “Mit Herz und Haltung” der Katholischen Akademie Dresden-Meißen und der Herder Korrespondenz.

“Und all das trifft in Ostdeutschland doch auf Menschen, die in den 1990er und 2000er Jahren so viele heftige, schmerzliche Veränderungen zu ertragen haben. Menschen, die natürlich auch noch tiefer gehende Prägungen in sich haben aus der autoritären Zeit der DDR.” Es gebe dort eine Veränderungserschöpfung und -abwehr: “Da möchten Leute gerne den hören, der sagt, muss alles gar nicht sein, möchten die Populisten hören, die das versprechen.” Zugleich betonte er: “Die AfD, Rechtsextremismus und Demokratieskepsis sind nicht nur ein ostdeutsches Problem.”

Die in Teilen rechtsextreme AfD kam bei der Bundestagswahl auf 20,8 Prozent und verdoppelt damit ihr Ergebnis von 2021. In allen fünf ostdeutschen Flächenländern wurde sie stärkste Kraft und kam auf 35,5 Prozent.

Mit Blick auf einen künftigen CDU-Bundeskanzler Friedrich Merz sagte Thierse: “Er will führen und er meint, dass auch die Stimmung in der Bevölkerung so sei, dass Führung gefragt ist. Ich hoffe, er widersteht der Versuchung, wie ein Mini-Trump aufzutreten, das würde nicht passen in unsere Art von Demokratie”. Die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, zeichne sich durch eine Demokratie der Kompromissfähigkeit aus, der Konsensfähigkeit der demokratischen Parteien.

“Man muss sich einigen und mal sehen, ob Friedrich Merz dazu fähig ist und bereit ist, sich darauf einzulassen”, sagte Thierse. “Er hat bisher keine Regierungserfahrung und das heißt, er hat bisher keine eigenen Erfahrungen für Konsens- und Kompromissbildungsprozesse, die aber wichtig sind für eine Koalition.” Gerade auch mit Blick auf eine Regierungskoalition aus CDU und SPD: “Es sind zwei unterschiedliche und durchaus gegensätzliche Parteien, die sich einigen müssen. Aber das setzt immer auch Fairness voraus, und zwar etwas größere Fairness vom größeren Partner.”