Wolfgang Thierse kann verstehen, dass die aktuellen Krisen und politischen Herausforderungen Menschen verunsichern. Doch er warnt davor, populistischen Politikern mit einfachen Antworten zu vertrauen.
Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse kann die Denkweise von AfD-Wählern nicht nachvollziehen. Er könne zwar verstehen, dass diese Menschen aufgrund der gewaltigen Veränderungen verunsichert seien, sagte der SPD-Politiker im Interview der Verlagsgruppe Bistumspresse (Sonntag). Gerade im Osten Deutschlands gebe es so etwas wie eine Veränderungserschöpfung. “Aber ich verstehe nicht, warum Menschen ihren Ärger und ihre Empörung und Hoffnungen zu einer Partei tragen, die nichts Konstruktives für sie tut. Einer Partei, die die wirtschaftliche und soziale Zukunft unseres Landes gefährdet und nur Falsches verspricht.”
Thierse nannte es eine Illusion, dass Deutschland seine Grenzen wieder schließen könne, “es sei denn, man will den wirtschaftlichen Ruin des Landes”. Deutschland lebe von der Offenheit der Welt. “Unserer Exportwirtschaft verdanken wir den Reichtum unseres Landes.”
Derzeit gibt es laut Thierse eine Fülle von Herausforderungen. Dazu gehörten Migrationsbewegungen, die digitale Transformation, die ökologische Herausforderung sowie die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten. All das sei gleichzeitig politisch zu gestalten, was Angst, Abwehr, Ärger und zum Teil Wut erzeuge. “Das wiederum macht manche Menschen verführbar für einfache Antworten und für Schuldzuweisungen sowie für Parteipolitiker, die ihnen das Blaue vom Himmel versprechen.”
Nach Worten des Politikers erfordert die Integration von Migranten enorme Anstrengungen. “Sie verlangt von den zu uns Gekommenen viel, und sie verlangt von den Einheimischen viel. Das geht nicht ohne Belastungen und Konflikte.” Aber in einer globalisierten Welt werde es weiterhin Zuwanderung geben. Auch brauche Deutschland Zuwanderung, um die wirtschaftliche und soziale Zukunft zu sichern. “In der Migrationspolitik muss es deshalb um Regelungen und Steuerung gehen und auch um bessere Absprachen mit den Kommunen.”
Aus Thierses Sicht ist es zu einfach, den Aufstieg der Populisten nur damit zu erklären, dass die Bundesregierung nicht immer gute Arbeit leiste. “Vergleichbare Situationen gibt es in nahezu allen demokratischen Ländern. Das ist kein spezifisch deutsches Problem.” Allerdings sollte die gegenwärtige Regierung weniger streiten und ihre Beschlüsse überzeugend erklären. Die Menschen müssten dann aber auch zuhören. Das aber sei heute nicht mehr selbstverständlich. “Wir leben in einer zersplitterten Kommunikationssituation.” Viele AfD-Wähler hielten sich vorwiegend in den Echoräumen des Internets auf, in denen sie sich zunehmend radikalisierten.