Die Spannung ist zum Greifen: Am Nachmittag sollen die ersten Geiseln aus dem Gazastreifen zurückkommen. Doch die Einigung ist fragil, was der verzögerte Beginn des Waffenstillstands zeigt.
Auf dem Platz im Zentrum von Tel Aviv, der seit kurz nach Beginn des Krieges als Geiselplatz bekannt wurde, tickt die digitale Uhr: 470 Tage, vier Stunden, zwei Minuten und zwei Sekunden. Es ist eine Momentaufnahme des zermürbenden Wartens auf die Geiseln, die am 7. Oktober 2023 in den Gazastreifen entführt wurden. “Jede Minute ist eine Ewigkeit”, titelt die Gratiszeitung “Israel HaJom” zum Sonntag, an dem die ersten drei Geiseln des jüngsten Abkommens zwischen der Hamas und Israel freikommen sollen. Und mit jeder Minute wächst die Sorge auf ein Scheitern seiner Umsetzung.
In der Sonne schillert eine silbrige Ballon-Zwei über einer kuscheltiergeschmückten Torte aus Papier. Kfir Bibas aus dem Kibbuz Nir Oz, die rothaarige jüngste Geisel, feierte zwei Tage vor dem Geiselabkommen seinen zweiten Geburtstag in Gefangenschaft. Auch er, sein älterer Bruder Ariel und seine Eltern stehen wohl auf der Liste der Geiseln, die in der 42-tägigen ersten Phase des Abkommens freikommen sollen. Wie es ihnen geht, und ob sie noch am Leben sind, weiß zu diesem Zeitpunkt keiner.
“Bis 16.00 Uhr werden wir den Atem anhalten. Das ist der Terror des Hoffens”, sagt Schivon Lev. Die frühere Bewohnerin des Kibbuz Nahal Oz ist seit Kriegsbeginn mindestens zweimal pro Woche mit ihrem Mann Eli auf dem Geiselplatz in Tel Aviv. Der Sohn einer guten Freundin gehört zu den in den Gazastreifen Entführten. Sein übergroßes Porträt und das einer weiteren Geisel aus Nahal Oz zieren die Wand des Zelts, in dem die Kibbuzmitglieder Mahnwache halten. “Seit dem 7. Oktober müssten wir Worte erfinden, um unsere Gefühle zu beschreiben, weil es keine Worte dafür gibt”, sagt Schivon Lev und wird von ihren Tränen überwältigt. Unvorstellbar und wie ein schlechter Hollywoodfilm sei der Angriff der Hamas gewesen, und gleichzeitig sei genau dieses Unvorstellbare so passiert.
Ähnlich unbeschreiblich seien die Gefühle, die jetzt, Stunden vor der erwarteten Freilassung der ersten Geiseln, herrschten. Bange Fragen stehen im Raum. Hält die Waffenruhe und kommen die Geiseln frei? Und in welchem Zustand werden sie sein? Der 7. Oktober habe sie gelehrt, “auf das Allerschlimmste und Unvorstellbare” vorbereitet zu sein, so Schivon Lev. “Hoffnung ist eine sehr grausame Sache, weil man jedes Mal sein Herz öffnet, damit es wieder und wieder gebrochen wird. Das “Privileg zu Zweifel”, wie sie es formuliert, hätten sie dennoch nicht, “weil wir stark sein müssen für die Familien der Geiseln, die unmenschliche Kräfte aufbringen müssen”.
Anspannung herrscht auch bei den Unterstützern der Geiselangehörigen in Jerusalem, die zusätzlich steigt, als der Beginn des Waffenstillstands sich mehrere Stunden verzögert. Persönlich hätte sie “jeden Preis” gezahlt, den es erfordert, die Geiseln heimzuholen, sagt Katya Armoza, die im Zelt unterhalb der Knesset an diesem Morgen die Stellung hält.
Für das anhaltende Warten und Bangen macht sie die “schlechteste Regierung aller Zeiten” verantwortlich, die “nur sich selbst und nicht das Volk” im Blick habe. Den Preis für das Warten zahlten andere. Ihr Sohn etwa, der als Spezialist die Leichen anhand ihres Zahnprofils identifizieren muss. Und die vielen weiteren Soldaten und Geiseln, die sterben mussten, während der jetzt verhandelte Entwurf schon seit Mai auf dem Tisch gelegen habe.