Die Trauer kam für Stefanie Goldbrich völlig unerwartet. Eigentlich hatte sie einen glücklichen neuen Lebensabschnitt vor Augen: Nach mehreren Fehlgeburten verlief ihre erneute Schwangerschaft nun bilderbuchhaft. Doch in der 40. Schwangerschaftswoche kam es zu Komplikationen. Ihr Sohn Dominik kam per Notkaiserschnitt auf die Welt. Und plötzlich wurden die Eltern mit der Nachricht konfrontiert: “Wir können Ihrem Sohn nicht mehr helfen.” Nach fünf Tagen starb er.
“Das war mein bisher intensivstes Erlebnis mit dem Tod und der Kraft der Trauer”, sagt die Mutter aus Neu-Isenburg rückblickend. Sie erlebte wiederkehrende Momente der Stille, der Schockstarre, der Unfassbarkeit und der Ohnmacht, aber auch der Glücksgefühle und Dankbarkeit.
Dominik war ein Sternenkind
Die Definition ist nicht genau: Selbsthilfegruppen zählen alle Kinder dazu, die vor oder nach der Geburt oder im ersten Jahr gestorben sind. Jedes Elternpaar oder jede Familie kann es für sich definieren, wie es sich für sie richtig anfühlt. Fest steht: Es sind keine Einzelfälle.
Jede sechste Frau erleidet laut Studien einmal im Leben eine Fehlgeburt. Im Jahr 2022 wurden in Deutschland 3.247 Kinder tot geboren: Kinder, die in der 24. Schwangerschaftswoche zur Welt kamen oder mehr als 500 Gramm wogen. Die Quote liegt bei 4,4 Prozent. Kinder die nicht in diese Kategorie fallen, werden nicht gezählt. 2.189 Kinder sind 2023 im ersten Lebensjahr gestorben. 40 Prozent aller Jungen und Mädchen, deren Leben im Kindesalter endet, sterben rund um die Geburt.
Stefanie Goldbrich wäre fast in ihrer Trauer versunken, denn sie merkte bald, wie schwer es ist, über Tod und Verlust zu reden. “Viele Menschen wissen nicht, wie sie mit solchen sensiblen Themen umgehen sollen, und scheuen das Gespräch aus Angst, etwas ‘Falsches’ zu sagen”, sagt sie. “Sie möchten außerdem keine ‘Wunden aufreißen’, dabei wollen sich die meisten Betroffenen mitteilen, um sich nicht allein zu fühlen.”
Sätze wie “Wein’ doch nicht schon wieder” Oder “Jetzt muss es aber mal wieder gut sein” hat die Mutter schon oft gehört. Sie schmerzen. “Der Trauer wird in der Gesellschaft kein Raum gegeben”, sagt Goldbrich.
Sternenkind-Selbsthilfegruppe: Die Trauer-Bubble wird größer
Doch sie fand den Mut, sich selbst mit dem Thema zu konfrontieren. Bei früheren Verlusten hatte sie sich oft versucht abzulenken. Sie recherchierte im Internet und merkte schnell, dass sie mit ihren Erfahrungen nicht alleine war. Seit drei Jahren ist sie aktives Mitglied bei der Selbsthilfegruppe des Vereins “Unsere Sternenkinder Rhein-Main” und begleitet die Selbsthilfegruppe in Offenbach.
Sie habe das Gefühl, “dass die Trauer-Bubble größer wird, Menschen, die trauern, trauen sich nun öfter, sich zu öffnen und aktiv Hilfe zu suchen und anzunehmen. Aber diese Bubble ist immer noch klein im Vergleich zum Rest der Gesellschaft”, erklärt sie. “Ich wünsche mir, dass Trauer nicht als Schwäche angesehen wird, sondern als das, was es ist, Ausdruck tiefer Liebe und Menschlichkeit. Je mehr wir den Verstorbenen geliebt haben, desto härter trifft uns die Trauer. Diesen Schmerz sollte man nicht verstecken, sondern aushalten. Solange bis es besser wird. Denn es wird besser.”
Diese Erfahrung hat auch Anne Schneider, Pflegefachkraft auf der Frühgeborenen-Intensivstation im Klinikum Hanau auch gemacht: Eltern sollten nicht über den Verlust ihres Kindes hinweggehen, sondern den Schmerz wahrnehmen. Daher setzt sie sich seit vielen Jahren dafür ein, dass sie Gelegenheit und Zeit bekommen, sich zu verabschieden.
“Früher hieß es: Umso weniger Kontakt mit dem Kind, umso besser. Die Kinder, die nach einer Frühgeburt verstarben, wurden schnellstmöglich entsorgt, kann man da schon sagen”, sagt Schneider. Das habe sie in ihrer Ausbildung selbst erlebt. “Heute wissen wir, dass das Gegenteil der Fall ist. Wenn Eltern keine Zeit zum Begreifen haben, dass da ein Kind war und es jetzt tot ist, dann ist das Trauma umso größer.”
Bewusstsein und Gesetzeslage haben sich geändert
Daher gibt es jetzt in dem Klinikum ein Sternenkinderbettchen, ein Kinderbett mit Kühlsystem für die toten Kinder. Die Eltern oder auch andere Angehörige können sich hier 36 Stunden lang verabschieden. “Oft verspüren Eltern große Ängste, sich dem Kind zu nähern. Ich motiviere sie und nehme sie an die Hand. Schließlich bleiben die allermeisten längere Zeit bei ihrem Sohn oder ihrer Tochter und sind sehr froh und dankbar. Wenn Großeltern, Tanten oder Onkel vorbeikommen, dann bekommt das Kind ein Platz in der Familie. Alle können so gemeinsam trauern.”
Nicht nur das Bewusstsein, auch die Gesetzeslage hat sich zuletzt gewandelt. Das Bestattungsrecht ist in jedem Bundesland unterschiedlich geregelt. Wenn ein Kind mindestens 500 Gramm wog oder älter als die 23. oder 24. Schwangerschaftswoche geworden ist, muss es etwa in Rheinland-Pfalz, Hessen und vielen anderen Orten bestattet werden.
Beträgt das Gewicht weniger als 500 Gramm, so muss eine Bestattung genehmigt werden, wenn ein Elternteil dies beantragt. Stellen die Eltern keinen Antrag, hat die medizinische Einrichtung oder der Arzt sicherzustellen, dass Fehlgeburten unter würdigen Bedingungen gesammelt und bestattet werden. Dies übernehmen oft Klinikseelsorger und Klinikseelsorgerinnen.
Pflegekraft: “Es ist so viel Liebe da”
Dennoch stößt Pflegefachkraft Schneider mit ihrem Einsatz manchmal noch auf Unverständnis. “Warum zeigt ihr das tote Kind? Es ist doch nur ein Zellhaufen”, das sei ihr schon gesagt worden. Ihre Erfahrungen sind ganz andere: “Wenn ich die Eltern so beobachte, wenn sie sich verabschieden, dann sehe ich, dass sie ihr Kind nehmen, wie es ist, egal wie klein”, sagt sie: “Es ist so viel Liebe da.”