Ein in Architektur geschulter Blick, aber auch ein weniger Kundiger sieht es gleich: Irgendetwas stimmt hier nicht. Der lang gestreckte Bau mit den vorgesetzten Säulen und einer kleinen Apsis zur Straße hin, der so merkwürdig schräg am Rand des Grundstücks liegt, kann hier nicht allein gestanden haben. Und tatsächlich: Die heutige Synagoge am Fraenkelufer im Berliner Stadtteil Kreuzberg ist der Rest eines viel größeren Gebäudeensembles.
Dieses wurde 1916 eingeweiht. An den Zentralbau der großen Hauptsynagoge, die mit 2000 Plätzen eine der größten Berlins war, schloss rechts ein Gebäude mit einem Saal für Trauungen und einer Hauswartswohnung an. Im noch heute bestehenden linken Seitenflügel befand sich die Wochentagssynagoge und ein Saal für Jugendgottesdienste.
Viele Menschen mit osteuropäischen Wurzeln
Dieser Komplex bot vielen der damals etwa 10000 Juden in Kreuzberg und Neukölln eine religiöse und auch eine gesellige Heimat. Vor allem dem hohen Anteil der Menschen mit osteuropäischen Wurzeln, denen der orthodoxe Ritus, der hier praktiziert wurde, näher war als das in der Synagoge in der Lindenstraße, heute Axel-Springer-Straße, praktizierte liberale Judentum.
Schnell entwickelte sich hier ein vitales Gemeindezentrum mit Kindergarten und Hort, später fanden auch jüdische Wohlfahrtseinrichtungen Aufnahme. Und von Anbeginn war es ein Ort religiösen Lernens.
Gemeindeleben in der Synagoge am Fraenkelufer
In dieser Tradition stehen auch manche derer, die heute in der Synagoge am Fraenkelufer zu Hause sind. So treffen sich an jedem Samstag nach dem Gottesdienst Erwachsene zum Erkunden geistlicher Texte und zur religiösen Unterweisung. Am Sonntag findet dasselbe für die Kinder der Gemeinde statt. Seit Kurzem am Dienstag wiederum für Erwachsene. „Das war mir wichtig, um unsere Gemeinschaft noch stärker zusammenzuhalten“, erklärt Nina Peretz, Vorstandsmitglied der Gemeinde. Angesichts der wieder neu und radikal ausgebrochenen Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern ist das sicher besonders erforderlich. Dass der Dienstagskreis sich zurzeit mit den Klageliedern der Bibel beschäftigt, hat wohl auch damit zu tun.
Neben der Deutschen Nina Peretz sind es andere junge Leute unterschiedlichster Herkunft, die sich so zusammenfinden. In den letzten zehn Jahren kamen außer vielen Israelis junge Menschen und Familien aus Nord- und Südamerika, Australien und Europa in die Synagoge am Fraenkelufer. Und mit ihnen eine neue Dynamik: Sie wollen einen jüdischen Kindergarten auf dem Gelände errichten. Und wieder einen Komplex aus mehreren Gebäuden als jüdisches Gemeindezentrum.
Angriff auf die Synagoge im November 1938
So, wie er seit 1916 schon einmal bestanden hat. Bis zum Angriff auf jüdische Geschäfte und Synagogen am 9. November 1938. Seitdem waren das Hauptgebäude, das 1943 durch einen Bombenangriff zusätzlich schwer beschädigt wurde, und der rechte Gebäudetrakt nicht mehr nutzbar. Alle Gottesdienste mussten fortan im linken Seitenflügel stattfinden. Juden aus anderen Gegenden Berlins, deren Synagogen beschädigt wurden, kamen ans Fraenkelufer. Die vorerst letzten Gottesdienste fanden hier im August und Oktober 1942 statt.
Dann wieder zum jüdischen Neujahrstag Rosch ha-Schana im September 1945. Ein paar hundert Juden kamen: aus Verstecken in Berlin und den Wäldern Polens, aus Lagern für durch den Krieg heimatlos Gewordene, als Flüchtlinge von Transportzügen und Todesmärschen, als Befreite aus Konzentrationslagern, einige kehrten aus der Emigration zurück. Anwesend waren aber auch sowjetische, britische und amerikanische Militärangehörige.
Wiedereröffnung nach dem Krieg
Unter ihnen der Offizier Harry Nowalsky. Stationiert am gegenüberliegenden Planufer, hatte er dafür gesorgt, dass die Synagoge für den Gottesdienst hergerichtet wurde. Was an Material und Leuten dafür erforderlich war, trotzte er seinem Vorgesetzten ab, der sich heimlich an seinem Schnapsbestand bedient hatte. Im Gegenzug brachte Nowalsky dies nicht zur Anzeige.
Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an
Den Gottesdienst, mit dem die Synagoge am Fraenkelufer als erste in Berlin nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs wieder eröffnet wurde, hielt der berühmte amerikanische Fotograf und Kriegsreporter Robert Capa im Bild fest. Ein Teil dieser Fotos ist noch heute am Fraenkelufer zu sehen. Capa bemerkte damals pessimistisch: „Die Berliner Juden haben nicht mehr viel, worauf sie sich im neuen Jahr freuen können und fügen sich in ihr Schicksal, die letzten Überlebenden ohne Zukunft zu sein.“
Dieses Urteil schien 1945 berechtigt. So fand sich etwa für die vielen Kaddischgebete für verstorbene Juden der dafür erforderliche Minjan, die Anzahl von zehn Männern nur mühsam zusammen. Nach und nach erst erholte sich die Religionsgemeinschaft der Juden in Berlin und seinen Stadtteilen Kreuzberg und Neukölln.
Neustart mit sanierter Synagoge im April 1959
Ende der 1950er Jahre gab es einen Neustart am Fraenkelufer. Die Ruinen des Hauptgebäudes samt anhängendem rechten Trakt wurden abgerissen; die Synagoge im linken Seitenflügel nach gründlicher Sanierung am 22. April 1959 wieder offiziell eingeweiht.
Beinahe wäre sie der neuen Stadtplanung im Sinne einer, wie es damals hieß, autogerechten Stadt, die großflächige Abrisse für neue Straßen in Kreuzberg vorsah, zum Opfer gefallen. Ein Ersatzbau am Kottbusser Damm wurde als Ausgleich vom Senat angeboten. Nachdem diese Umgestaltung der Stadt durch intensive Proteste aufgegeben worden war, blieb der Synagogenstandort gesichert, nur das Grundstück wurde deutlich kleiner.
Im Innern der Synagoge gab es eine Veränderung, die zur optischen Verschönerung beigetragen hat. Eine Reihe von Parochot waren wiederentdeckt worden. Diese reich verzierten Prachtvorhänge, mit denen die Torarollen im Toraschrein verhangen werden, hatten – in Vergessenheit geraten – an verschiedenen Stellen gelagert, unter anderem auf dem Boden der Synagoge. Sie sollten nun die Wand gegenüber dem Toraschrein und der Bima, dem Pult für die Toralesung, schmücken.
Verdacht eines Kunstraubs
Hauswart Jakob Hoffmann brachte sie zuvor zur Reinigung und wurde Tage später von der Kriminalpolizei aufgesucht. Die kostbaren Textilien, insbesondere ein Parochet aus dem 18. Jahrhundert, hatten den Verdacht eines Kunstraubs erweckt. Nachdem dieser ausgeräumt war, durften die Parochot die Synagogenbesucher erfreuen.
Viele Juden aus der ehemaligen Sowjetunion zogen in den 1990er Jahren nach Deutschland und trugen zum Wachstum jüdischer Gemeinden bei, auch in Berlin. Danach stagnierte das Wachstum zunächst. In den letzten zehn Jahren zogen junge Menschen aus aller Welt hierher. Sie sind Mitglied der Jüdischen Gemeinde Berlin, zu der auch die Synagoge am Fraenkelufer gehört. Etwa 200 haben hier ihr geistliches und auch ein soziales Zuhause gefunden.
Koscheres Café ist geplant
Sie haben ehrgeizige Pläne. Wie damals – von 1916 bis zum schmerzhaften Eingriff im November 1938 – soll es am Fraenkelufer wieder einen Ort lebhaften Gemeindelebens geben, mit dazu gehörigen Einrichtungen und Aktivitäten für Kinder und Jugendliche, mit Gelegenheiten zum religiösen Lernen und Wachstum, zum Erleben jüdischer Kultur.
Ein koscheres Café ist geplant, auch um den Austausch mit den Menschen im Umfeld zu gestalten, ebenso ein jüdischer Kindergarten. Ein jüdisches Gemeindezentrum eben. Wobei Nina Peretz, der vorgesehenen kulturellen Aktivitäten wegen, von einem jüdischen Kultur- und Gemeindezentrum spricht. Für all das soll auch wieder ein dem vorigen ähnlicher Gebäudekomplex entstehen. Ist der einmal da, muss sich niemand mehr über den um seine Nachbargebäude gebrachten einsam stehenden Seitenflügel wundern.