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“Spiritualität als Grundstrom, aus dem sich alles speist”

Christliches Yoga, Kontemplation, meditativer Tanz, Naturspiritualität: Mit einem breiten spirituellen Angebot will die Landeskirche mehr Menschen erreichen. Bei der Herbsttagung der Landessynode ab 26. November in Amberg stellen Kirchenrätin Andrea Heußner und Schwester Nicole Grochowina ein Impulspapier mit dem Titel „Evangelische Kirche – eine gute Adresse für Spiritualität“ vor. Heußner ist Diakonin und leitet das Referat „Spiritualität und Generationen“ der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB). Grochowina ist Ordensschwester der Communität Christusbruderschaft Selbitz; die habilitierte Historikerin lehrt am Lehrstuhl Geschichte der Frühen Neuzeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen. Dem Evangelischen Pressedienst (epd) erklären sie, wodurch sich christliche Spiritualität von Angeboten anderer Anbieter unterscheidet, wie spirituell Kirche 2030 ist und wonach Menschen eigentlich suchen.

epd: Viele Menschen nehmen die evangelische Kirche als Kirche des Worts war, eher verkopft als sinnlich: Stimmt das?

Heußner: Ja, leider, denn die Tradition der geistlichen Übung ist im Christentum schon immer da. Jesus selber hat sich in die Einsamkeit auf die Berge zurückgezogen, um zu beten. Ich würde sagen, die Kirche hat mehrere Schätze: Sie haben zu tun mit Handeln, mit Nächstenliebe, mit Bildung, mit Ethik, mit Werten. Wie im menschlichen Leben gibt es Zeiten, in denen das eine stärker gebraucht wird als das andere. Dem Schatz der erfahrungsbezogenen Spiritualität haben wir in den letzten Jahrzehnten sicher zu wenig Raum gegeben.

epd: Spiritualität ist eine von vier Säulen im Zukunftskonzept der bayerischen Landeskirche. Welches Bild gibt die Kirche im Jahr 2030 spirituell ab?

Grochowina: Wir werden eine kleine, fröhliche Minderheitenkirche sein, die sagt, was sie glaubt und glaubt, was sie sagt. Die Menschen, die sie ausmachen, sind auskunftsfähig und sprachfähig und selbst auf geistlichen Wegen unterwegs. Kirche 2030 lebt vom Zeugnis der Einzelnen – und man spürt, ob ein Mensch gut gegründet ist mit dem, womit er unterwegs ist, oder ob das bloß ein Lippenbekenntnis ist. 2030 ist die Zeit der Lippenbekenntnisse vorbei.

Heußner: Ich hoffe, dass 2030 Spiritualität als Grundstrom verstanden wird, aus dem sich alles andere speist. Aus ihm beziehen alle Menschen, die in der Kirche Heimat finden, ihre Kraft für alle anderen Aktivitäten. Dabei gibt es vielfältige Wege zu Gott, in die Tiefe, zur eigenen Mitte. Wie können wir als Kirche eine Art Kanalisationssystem sein für diese Kraft Gottes aus der Tiefe? Wir wollen mit den Menschen auf die Suche gehen, nicht als Besserwisser, sondern als Suchende unter Suchenden.

epd: Die ersten Beschlüsse zum Thema Spiritualität hat die Landessynode schon 2004 gefasst. 20 Jahre später stellt Ihr Impulspapier fest, dass spirituelle Angebote immer noch nicht sichtbar genug und außerdem unterrepräsentiert sind. Warum?

Heußner: Damals wurden vor allem Ausbildungswege initiiert: zur geistlichen Begleitung, zur Meditationsanleitung, außerdem wurden zwei spirituelle Zentren gegründet. Mittlerweile haben viele Menschen diese Ausbildungen gemacht. Jetzt muss es gelingen, sie mit dem Alltag in den Gemeinden und Dekanaten in Berührung zu bringen und zu fragen: Was braucht ihr, um euren Schatz weiterzugeben? Manchmal scheitert das schlicht am Geld für Meditationshocker.

epd: Das Papier bezeichnet Spiritualität auch als Ressource für kirchliche Gremien im aktuellen Transformationsprozess. Die meisten Andachten vor Sitzungen sind allerdings eher Predigt als spirituelle Anleitung.

Grochowina: Eine Andacht ist nicht die Erkenntnisabwurfstelle der Theologie. Sie sollte davon gekennzeichnet sein, dass da etwas aufleuchtet vom Grundton des Glaubens in meinem Leben. Möglicherweise haben wir da einen gewissen Analphabetismus in Gremien, da nehme ich auch die Synode nicht aus. Die Frage ist: Wo kommt die Sprachlosigkeit her? Was kann man tun, um ihr entgegenzutreten? Unser Papier sagt: Das ist eine Frage der Übung. Und die beginnt mit der Entscheidung, sich auf den Weg zu machen. Das meint die Arbeit an dem, was Martin Luther immer den „inneren Menschen“ nennt. Spiritualität ist nichts, was ich konsumiere.

epd: Ist dafür eine neue Riege von Theologinnen und Theologen nötig?

Grochowina: Ja, das finde ich.

Heußner: Andererseits haben wir alles, was wir brauchen. Die Frage ist, wieviel Raum wir dem geben. Als Kirche müssen wir dafür sorgen, dass in der Ausbildung – die sehr kopflastig ist – auch Leib und Erfahrung vorkommen. Deshalb führen wir für angehende Pfarrerinnen und Pfarrer das Geistliche Mentorat ein.

epd: Schwester Nicole, in ihrer Gemeinschaft, der Communität Christusbruderschaft Selbitz, pflegen Sie seit Jahren eine spirituelle Praxis trotz eines vollgepackten Arbeitsalltags. Braucht man dafür extra Zeit oder ergibt es sich von selbst, wenn man es will?

Grochowina: Es braucht Zeit. Und das Ziel ist eine Selbstverständlichkeit der Praxis. Um dahin zu kommen, braucht es in der Aus- und Fortbildung von kirchlichen Mitarbeitenden Aufmerksamkeit für das Thema und spirituelle Angebote. Aber dann ist jede und jeder – Priestertum aller Glaubenden! – selbst verantwortlich für das eigene geistliche Leben. Das ist hier kein Vollkasko-Ding von der Institution Kirche. Jede und jeder einzelne ist gefordert zu sagen: „Ja, ich mach mich auf den Weg und ich habe die zehn Minuten am Morgen wo ich sage: Alles klar Gott, hier bin ich, wir gehen zusammen durch den Tag.“

epd: Was bringt Ihnen Spiritualität für Ihr Leben und Ihren Alltag?

Grochowina: Sie ist mein großes Glück. Sie beheimatet mich in dem Wunder von Ostern, so platt muss ich das sagen. Sie beheimatet mich weit über meinen Tod hinaus in einem großen Gefüge von Ich-bin-aufgehoben.

epd: Warum kommen Menschen zu spirituellen Angeboten?

Heußner: Der erste Zugang ist für viele das Gefühl: Ich bin unruhig, ich bin immer unter Druck, ich hab meine Mitte verloren. Dann fängt man an mit christlichem Yoga oder Stille und erfährt, wie sich ein innerer Frieden auftut. Jetzt ist die Frage: Haben wir Hauptamtliche, die sich trauen, das mit den Menschen auch zu deuten? Die – auf Einladung – fragen: Wo hat sich in deinem Erleben etwas von Gott gezeigt? Liegt unter der Sehnsucht nach Ruhe noch etwas Tieferes? Und wir müssen danach fragen, was Menschen erfahren haben, was sie interessiert und was sie suchen.

epd: Aber die meisten fangen ja eben nicht mit christlichem Yoga an. Wo grenzt sich christliche Spiritualität ab zu Angeboten aus anderen Religionen oder Esoterik?

Grochowina: Wir haben einen anderen Grund. Bei uns steht der Mensch nur mittelbar im Mittelpunkt. Unmittelbar im Mittelpunkt steht, ich sag’s mal ganz groß, die befreiende Botschaft Gottes, die jeden Menschen in seiner Besonderheit meint. Es ist dann eine individuelle Gottesbeziehung, die daraus hervorgeht. Das „Angebot“ das wir machen, geht weit über den Menschen hinaus, meint aber den Menschen in seiner Gänze.

epd: Und andere Angebote bleiben schon vorher stecken?

Heußner: Ich bin immer da skeptisch, wo es um Selbsterlösung geht. Christinnen und Christen sind frei, wir haben keinen Wenn-dann-Gott. Sie müssen sich nicht selbst erlösen, erfinden, erschaffen. Ich bekomme Bauchweh, wenn Menschen gesagt wird: Das hier musst du auch noch tun, und das musst du noch besser machen! Bei manchen Angeboten im esoterischen Bereich geht es den Anbietern um ihren Geldbeutel oder um ihr Ansehen. Da mögen gute Methoden dabei sein. Aber ist der Mensch im Blick und das, was ihm beim Wachsen hilft?

epd: Wenn der klassische Sonntags-Gottesdienst eine spirituelle Form ist, wie Sie im Papier schreiben, warum sind dann da so wenig Leute?

Heußner: Gottesdienste sind mit ihrer Sprache und Form eine sehr spezielle Art von Übung. Wer sich das erschließt, findet einen kostbaren Schatz. Es ist ein spiritueller Weg, den wir weiter pflegen. Aber es braucht auch Formen für Menschen, für die Gottesdienste nicht das richtige sind. In der Bibel heißt es: „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen.“ Der Gottesdienst ist eine davon. Die anderen Räume müssen wir noch besser einrichten und intensiver dazu einladen. (00/3788/21.11.2023)