Von Uli Schulte Döinghaus
Noch fließt russisches Öl in die Schweder PCK, wo der Rohstoff raffiniert wird. Neun von zehn Litern Sprit, die in Berliner und Brandenburger Autos verbrannt werden, kommen aus dem Schwedter Werk. Mit russischem Öl soll spätestens ab Januar 2023 Schluss sein, so hat es die Bundesregierung in Berlin beschlossen. Die Einnahmen aus der Raffinerie, die dem russischen Staatskonzern Rosneft fast komplett gehört, sollen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht länger finanzieren. Zurzeit werden im uckermärkischen Schwedt rund 37Millionen Liter Erdöl täglich in Benzin, Heizöl, Diesel und Flugbenzin umgewandelt.
Auf dem Gelände der PCK-Raffinerie im Nordwesten von Schwedt arbeiten rund 3000 Mitarbeiter, meistens als gut verdienende Fachkräfte. Zahlreiche Klein- und Mittelbetriebe sind als Zulieferer und Dienstleister in und um Schwedt wirtschaftlich von Wohl und Wehe der Raffinerie abhängig. Viele sind in ihren Familientraditionen stark mit dem Werk verbunden. Die Älteren haben noch vor Augen, wie nach der Privatisierung des DDR-Kombinats Tausende von Beschäftigten entlassen wurden. Viele von ihnen wanderten in den Westen Deutschlands ab – und sind nicht zurückgekehrt.
Verständlich, dass das Schicksal „ihrer“ Raffinerie zurzeit das Thema Nummer Eins bei den 30000 Schwedter Bürgerinnen und Bürgern ist. Der zentrale „Platz der Befreiung“ reichte Ende Juni nicht aus, als rund 4000 Schwedter für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze während einer Ansprache von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünne) demonstrierten. Es war eine der größten Kundgebungen in der Uckermark seit 1990. Organisiert hatte sie das Bürgerbündnisses „Zukunft Schwedt“.
Wichtigster Ausbildungsbetrieb
Unter ihnen war auch Pfarrer Gunter Ehrlich. Zusammen mit Pfarrerin Christa Zepke und Pfarrer Carsten Hoffmann leitet er den Pfarrsprengel Schwedt, zu dem neben Schwedt rund 20 kleine Dörfer unter dem Dach dreier Kirchengemeinden gehören. Unmittelbar nach Überfall und Embargobeschluss lobte Pfarrer Gunter Ehrlich die große Solidarität der Schwedter mit der Ukraine, warnte aber auch vor den sozialen Folgen einer Schließung der Raffinerie, vor einem flächendeckenden Unmut der Bürger.
In den Gemeinden des Sprengels wird natürlich häufig über den Krieg gegen die Ukraine und das Schicksal der Raffinerie gesprochen, die größter Arbeitgeber und wichtigster Ausbildungsbetrieb in der Region ist. Die Gemeindepfarrer greifen das Thema regelmäßig in ihren Predigten auf, auch wenn allen klar sei, dass auch die Pfarrer keine Antworten auf die drängenden Fragen der Schwedter haben. Seine Kollegen und er spüren das zum Beispiel, wenn sie als Seelsorger in den Senioreneinrichtungen in der Region unterwegs sind. Nicht wenige Bewohner haben noch Erinnerungen an eine Kindheit im Krieg. Sie sorgen sich um ihre Kinder und Enkelkinder.
Nur einer von acht Einwohnern aus Schwedt und Umgebung gehört zur evangelischen Kirche. Fast alle haben Verbindungen zum wichtigsten Arbeitgeber der Stadt. Das hohe Durchschnittsalter und ein kirchenferner Zeitgeist haben dafür gesorgt, dass die Mitgliedszahlen (zurzeit rund 3000) zurückgegangen sind, besonders in den ländlichen Dörfern und Gemeinden, in denen vor ein paar Jahrzehnten noch jeder dritte zur Kirche gehörte.
Kirchenferne Bevölkerung
In der Stadt Schwedt, die bis zur Friedlichen Revolution als sozialistische Musterstadt galt, spielte die Kirchenzugehörigkeit nie eine große Rolle – das gilt bis heute. Carsten Hoffmann freut sich darauf, wenn er nach langer Zeit mal wieder ein Paar kirchlich trauen darf.
Auch vor diesem Hintergrund sind Pfarrer Ehrlich und Pfarrer Hoffmann durchaus glücklich über die neun Konfirmanden, die zuletzt eingesegnet wurden. „Bei den meisten ist es so, dass die Eltern einen kirchlichen Hintergrund haben, selbst gute Erinnerungen an ihren Konfirmandenunterricht haben und ihrem Kind eine ähnliche Erfahrung mit auf den Weg geben wollen“, sagt Carsten Hoffmann. Es gebe aber auch immer wieder mal Ausreißer aus der Konformität der Kirchenferne, erzählt Gunther Ehrlich, „es ist schön, mit ihnen zu arbeiten“.
Ehrlich, Hoffmann und Zepke repräsentieren den Typus des evangelischen Landpfarrers, der fast durchweg auf Achse ist, um in allen Dörfern und Dorfkirchen, für die Gemeindekirchenräte und die Gemeindeglieder im Pfarrsprengel erreichbar zu sein. Zahlreiche Angebote für Musikliebhaber*innen, für Frauen, Senioren, Familien und Kinder in den Sprengel-Gemeinden stoßen auf Interesse auch bei Städtern und Dörflern, ohne Kirchenzugehörigkeit. Es gibt diakonische Angebote und einen evangelischen Kindergarten. Zur Evangelischen Grundschule der Schulstiftung gibt es enge pädagogische und geistliche Kontakte.
So lange ist es nicht her, dass sieben eigenständige Gemeinden mit ihren Gemeindekirchenräten die Geschicke kleinster Einheiten organisierten. Heute sind die Beteiligten zufrieden mit den Fusionen, welche Seelsorge, Verkündigung, Gemeindediakonie und Gemeindeleben übersichtlicher machen. Ortskirchenräte sorgen dafür, dass die Interessen der „unselbstständigen“ Kirchengemeinden nicht zu kurz kommen. Meist geht es um Bauangelegenheiten rund um die Dorfkirchen, manchmal auch um die durchaus konfliktträchtige Frage, ob sakrale Innenräume der Dorfkirchen auch für weltliche Trauerveranstaltungen von Bewohnern genutzt werden dürfen.
„Man kennt sich“
Die drei Pfarrer arbeiten nach einem Rotationsprinzip. Das bedeutet, dass immer ein Pfarrer in Schwedt und einer in den Kirchen im ländlichen Raum Sonntagsgottesdienst feiert. Und dabei wecheln sie sich ab.
Das dient dem Zusammenhalt und der Identifikation mit der Gesamtgemeinde. Es führt auch dazu, dass an besonderen Tagen sogenannte zentrale Sprengelgottesdienste gut besucht sind. Man kennt sich. Man weiß, wer zum Gottesdienst geht. Man organisiert spontane Mitfahrgelegenheiten.
Das habe auch im Februar und März gut funktioniert, so Pfarrer Ehrlich und Pfarrer Hoffmann, als es in den Kirchen in und um Schwedt Gottesdienste und ökumenische Friedensgebete gab, die den Krieg gegen die Ukraine thematisierten und unsere Sorge um den Frieden in Europa. Zeitweise bestand die Hälfte der Besucher aus Menschen, die mit Religion und Kirche sonst nichts zu tun haben, sagt Gunter Ehrlich. Sie waren dankbar, dass sie mit ihrer Ratlosigkeit und den Sorgen nicht alleine waren. „Da ist ein Vakuum sichtbar geworden“, sagt Gunter Ehrlich.
Schwedt und das Öl
Seit 1964 Jahren wird in der PCK-Raffinerie in Schwedt (Oder) russisches Erdöl verarbeitet, das über die Pipeline „Druschba“ (Freundschaft) in die uckermärkische Stadt kommt. Die deutschen Hauptnutzer der Pipeline sind neben der PCK-Raffinerie, die Total Raffinerie Mitteldeutschland in Leuna, die über eine Pipeline an die Erdölleitung Freundschaft angeschlossen ist. Transportiert werden bis nach Schwedt pro Jahr insgesamt circa 22 Millionen Tonnen westsibirisches Erdöl. Die daraus hergestellten Kraft- und Brennstoffe versorgen Brandenburg und Berlin, außerdem Teile Norddeutschlands und Westpolens. Rund 1200 Beschäftigte hat die Schwedter Raffinerie. Stadt, Landkreis und Unternehmen sehen sich aktuell als Opfer der gegenwärtigen Entscheidungen der Bundesregierung. Die Politik hat beschlossen, ab 1923 auf russisches Erdöl zu verzichten. Die Bunderegierung sucht derzeit nach anderen Versorgungswegen für die Raffinerie, um den Arbeitnehmer*innen eine Zukunft in Schwedt zu ermöglichen.