Bisher lautete das Erfolgsrezept der ARD-Medizinserie “Charite”: Eng an die Geschichte des 1727 gegründeten Berliner Krankenhauses angelehnt nahm die Serie mit auf die Reise durch den medizinischen Fortschritt.
Von den frühen Zweifeln Rudolf Virchows, wie es um Bakterien bestellt ist, über den genialen Chirurgen Ferdinand Sauerbruch bis zur Arbeit der Kinderärztin Ingeborg Rapoport und die Erfindung der Schluckimpfung gegen Kinderlähmung: Historisch bewegte sich die Serie durch Preußen und das deutsche Kaiserreich, zwei Weltkriege, die Nazi-Herrschaft und die Lage im geteilten Berlin vor und nach dem Mauerbau.
Charité: Jetzt wird alles anders
Mit Staffel 4 wird alles anders. Die ARD zeigt die Serie ab Dienstag, 9. April, um 20.15 Uhr. Die Charite steht noch, doch nicht mehr in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. Wir schreiben das Jahr 2049, der Klimawandel hat Deutschland fest im Griff. Zwar kommt das immer noch reiche Land leidlich damit klar. Doch die Menschen zieht es verständlicherweise zum Wasser, wo plötzlich ein unbekanntes Bakterium entdeckt wird.

Doch nicht nur das setzt Gesundheitsminister Thomas Nguyen unter Druck (diese von Hyun Wanner gespielte Rolle ist offenbar eine kleine Reminiszenz an den 2009 bis 2011 amtierenden ehemaligen FDP-Gesundheitsminister Philipp Rösler). Nguyen ist gezwungen, die Strände auf Norderney und anderswo abzuriegeln. Seine Politik steht auch deshalb massiv in der Kritik, weil die laufenden Reformen das Solidarprinzip in der Gesundheitsfürsorge kippen und durch ein Scoring-System ersetzen. Hier wird das Verhalten der Menschen mit Punkten bewertet und entscheidet, auf welche medizinische Versorgung sie noch Anspruch haben.
Ganz hautnah erlebt das in der Charite Chirurgin Seda Safadi (Adriana Altaras). Sie ist schon lange dabei, sieht das neue Gesundheitsregime mehr als skeptisch und bekommt prompt als eine der ersten die Auswirkungen zu spüren. Die dringend nötige Nierentransplantation einer Patientin wird in letzter Minute gestrichen.
“Charité 4”: eine stimmige Serie
Das bringt Safadi auch auf Konfrontationskurs mit ihrer eigenen Tochter: Maral Safadi (Sesede Terziyan) ist eben mit ihrer Frau, der Gynäkologin Julia Kowalczyk (Angelina Häntsch), nach einer Karriere in den USA nach Deutschland zurückgekehrt und hat an der Charite die Leitung des Instituts für Mikrobiologie übernommen. Sie gehört außerdem zum wissenschaftlichen Beraterstab von Gesundheitsminister Nguyen.
Draußen demonstriert währenddessen ein bunt gemischter, immer größer werdender Menschenstrom gegen die Gesundheitsreform. “Die Menschen gehen lieber zugrunde, als dass sie ihre Gewohnheiten ändern”, kontert Minister Nguyen geschmeidig – wobei Wanner für die Rolle des fiesen Technokraten etwas zu sympathisch rüberkommt.
“Charite 4” nimmt stimmig und plausibel einen ganzen Schwung aktueller Themen auf, von Klima- und anderen Protestklebern bis zur Frage, wie sich ein faires Gesundheitssystem auf Dauer angesichts einer überalterten Bevölkerung finanzieren lässt und wie stark sich der Staat in Sachen Vorsorge ins Leben seiner Bürger einmischen darf.
Erreger aus der Steinzeit
Natürlich kann niemand heute wirklich wissen, wie in 25 Jahren die Welt und ihre Medizin aussehen. Aber die umfangreiche Fachberatung, die wie bei den bisherigen Staffeln mit im Spiel ist, zeigt zumindest, woran heute mit Blick auf die Zukunft gearbeitet und geforscht wird.
Und natürlich sind wir auch immer noch im Fernsehen. Das mysteriöse Bakterium stammt nicht aus Norderney, sondern war im längst nicht mehr ewigen Eis Grönlands eingeschlossen, weshalb sich – “Fräulein Smillas Gespür für Schnee” lässt grüßen – die Medizin plötzlich mit einem Erreger aus der Steinzeit herumschlagen muss. Und weil keine gute Geschichte ohne ein bisschen Robin Hood auskommt, eröffnet Seda Safadi in einem nicht mehr genutzten Teil des Charite-Komplexes eine Untergrundklinik und operiert hier weiter – Scoringsystem hin oder her.
Dabei bleibt die Serie aber immer angenehm “down to earth”. Denn wie hatte sich der erste Patient mit dem unheimlichen Paleo-Erreger aus Grönland infiziert? Ganz banal beim offensichtlich auch noch 2049 üblichen Kartoffelschälen.