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Selber denken

Der Schriftsteller Navid Kermani verweigert sich in der Flüchtlingsdebatte einfachen Antworten. Sicher ist er aber darin: Nötig ist ein neutraler und starker Staat

Rolf Zoellner

Der Schriftsteller Navid Kermani setzt in der Flüchtlingspolitik auf eine starke Staatsmacht. Gerade eine Gesellschaft mit Konflikten „ist angewiesen auf einen neutralen und starken Staat, der das staatliche Gewaltmonopol durchsetzen kann“, sagte der in Köln lebende Kermani im Gespräch mit Wiebke Rannenberg. Der 48-Jährige, der 2011 mit der Buber-Rosenzweig-Medaille und 2015 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, reiste für sein Buch „Einbruch der Wirklichkeit“ im September 2015 auf dem Flüchtlingstreck durch Europa. Grundsätzlich, so Kermani, gebe es in den komplexen Situationen keine einfachen Antworten.

 

In Ihrem Buch „Einbruch der Wirklichkeit“ schreiben Sie mit Blick auf die Willkommensbotschaften im September 2015 von einem seltsam weich gewordenen Deutschland. Das Graue, Starre, Abweisende sei wie mit Puderzucker bedeckt, der sich aber auch leicht wegblasen lasse. Ist der Puderzucker weggeblasen?
Mir kam diese Euphorie im September etwas übertrieben und medial inszeniert vor, etwa wenn selbst die „Bild“-Zeitung sich plötzlich für Flüchtlinge einzusetzen meinte. Das konnte ich nicht so richtig ernst nehmen. Dabei hatte es in Deutschland schon eine Willkommenskultur gegeben, bevor irgendwer das Wort kannte; Politik und Medien haben auf die Hilfsbereitschaft eher reagiert, als dass sie die gesellschaftliche Bewegung angestoßen hätten. Und jetzt wendet sich ein Teil der Politik und ein großer Teil der Medien wieder ab – und inszeniert statt der Willkommenskultur die kollektive Überforderung der Deutschen. Aber die Hilfsbereitschaft ist allerorten geblieben, in Städten wie Köln gibt es Wartelisten für Helfer.

An der Haltung der Menschen hat sich nichts geändert?
Doch, es ist ja viel passiert, etwa die Terroranschläge in Paris und die Silvesternacht in Köln. Es gibt einen Stimmungsumschwung, jetzt nimmt man eher auch die Probleme wahr, die die Flüchtlinge in dieser Zahl bringen. Aber die Diskussionen verlaufen in weiten Teilen der Gesellschaft nicht so hysterisch wie in den Medien dargestellt. Speziell das Internet ist laut, aber keineswegs repräsentativ.

Eine der Reaktionen der Politik ist das Asylpaket II mit einigen Verschärfungen. Ist das der richtige Weg?
Ich schreibe ja Reportagen, weil ich nicht die Kompetenz habe, zu sagen, wie es laufen soll. Sonst wäre ich in die Politik gegangen, wenn ich wüsste, was genau getan werden muss. Ich beschreibe eine Gegenwart, aus der durchaus unterschiedliche Schlüsse gezogen werden können.

Würden Sie gern in die Politik gehen?
Nein. Meine Fähigkeit ist, Situationen zu beschreiben, die komplex und nicht eindeutig sind. Das wird sich vielleicht auch dem Leser erschließen, dass es die einfache Lösung nicht gibt.

Sie schreiben mit Blick auf die Öffnung der Grenzen für die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge: „Vielleicht ist es in der Politik auch nicht immer richtig, dem Impuls zu folgen, wenn man helfen will. Oft allerdings schon. Nur wann?“ Haben Sie inzwischen eine Antwort gefunden?
Diese Frage werde ich ja jetzt nicht im Interview beantworten, wenn ich sie im Buch nicht beantworten kann. Der Leser soll selbst nachdenken. Das ist ja das Ambivalente an der Entscheidung, die ich immer noch verteidige, die Flüchtlinge auf der Autobahn nach Deutschland zu lassen. Das hätte man in der Situation nicht anders entscheiden können.
Nur beschreibe ich auch die Folgen der Entscheidung: Es haben sich Menschen auf den Weg gemacht, die so gut wie keine Perspektive in Europa haben, die selbst enttäuscht werden, aber auch Enttäuschung hervorrufen werden.

Bei einer Veranstaltung Mitte Januar in Frankfurt haben Sie gesagt: „Wir brauchen einen starken Staat in Zeiten des Terrors. Das kommt uns Linken schwer über die Lippen.“ Definieren Sie sich als Linker?
Meine politische Sozialisation in den 80er Jahren war eher grün-alternativ als dezidiert links.

Auch andere wie die CSU fordern einen starken Staat. Was unterscheidet Sie?
Das Verständnis von Liberalismus: Ich stelle die politische Freiheit in den Mittelpunkt, andere den Abbau des Staates und die Deregulierung. Es geht um das Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Freiheit. Die Frage ist ja nicht ein starker Staat oder nicht, sondern was für ein starker Staat. Das zeigt sich doch in aller Drastik in den sogenannten failed states oder in Bürgerkriegen: Ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit. Aber ohne Freiheit ist alle Sicherheit nichts.

Und welchen starken Staat meinen Sie?
Je mehr man dereguliert, desto mehr profitieren die Starken und auch die Kriminellen. Deshalb muss gerade die Linke dafür plädieren, staatliche Leistungen zu stärken, Strom und Wasser ebenso wie die Polizei. Ich bin ja kein Sicherheitsexperte. Aber es leuchtet unmittelbar ein, was in der Silvesternacht in Köln geholfen hätte: nicht eine bessere Durchleuchtung der Bürger, sondern eine stärkere Präsenz der Polizei.
Das hat vielleicht etwas gedauert, bis auch wir das verstehen, dass es nicht gut ist, wenn man Streifenpolizisten abbaut. Das gilt gerade für eine Gesellschaft, in der Konflikte entstehen und in der es eine wachsende Gewaltbereitschaft auf verschiedenen Seiten gibt.

Diese wachsende Gewaltbereitschaft sehen Sie in Deutschland?
Wir hatten fast 1000 Anschläge auf Flüchtlingsheime allein im vergangenen Jahr, und wir haben die islamistische Gefahr. In Köln hatten wir ja nicht nur die Szenen der Silvesternacht, auch bei Hogesa-Protesten konnten Hooligans über Stunden in der Innenstadt randalieren und Polizeiwagen umschmeißen, ohne dass der Staat eingegriffen hätte. Ich glaube, gerade eine Gesellschaft, in der es Konflikte gibt – und Gesellschaften mit vielen unterschiedlichen Kulturen sind bei aller Vitalität, bei allem kulturellem Zugewinn per se auch konfliktreiche Gesellschaften –, gerade die ist angewiesen auf einen neutralen und starken Staat, der das staatliche Gewaltmonopol durchsetzen kann.

Sie fordern schon lange die Trennung zwischen Einwanderung und Asyl. Sind Sie für eine Obergrenze?
Wie soll das gehen? Einen Zaun rund um Deutschland errichten? Und was, wenn sich Flüchtlinge nicht an die Absperrung halten? Schießbefehl? Bisher ist kein praktikabler Vorschlag für eine nationale Lösung aufgetaucht. Wir klagen Europa an, aber sehen nicht, dass es der Nationalstaat ist, der in der Flüchtlingspolitik spektakulär scheitert.

Sie schreiben: „Zu akzeptieren, dass man Menschen abweist beziehungsweise abschiebt, wenn sie weder bedroht sind noch eine Perspektive haben, Arbeit zu finden, fällt zumal einem Einwandererkind wie mir schwer, gehört aber wohl ebenfalls zu einer realistischen Politik.“ Der Abschiebung versperren Sie sich nicht?
Natürlich nicht. Den Zuzug von kriminellen Banden habe ich in Köln ja hautnah erlebt. Da muss man nur in ein marokkanisches Café im Bahnhofsviertel gehen: Wer am meisten über die neue Straßenkriminalität klagt, sind die vielen nicht-kriminellen Marokkaner selbst. Aber die einzige Möglichkeit, Einwanderung zu kontrollieren, besteht darin, legale Einwanderungsmöglichkeiten zu schaffen. Nur das könnte den Druck der illegalen Einwanderung so weit reduzieren, dass sie beherrschbar wird.

Unter Protestanten gibt es viele, die ihr politisches Engagement mit aus ihrem Glauben gewonnenen Überzeugungen begründen. Tun Sie das auch?
Es gibt sicherlich ethische Momente, die ich aus meinem Glauben ableite, die mir auch vermittelt worden sind von Eltern und Großeltern. Aber das würde ich nicht überbewerten. Ich bin ja schon als politischer Mensch groß geworden. Mein Engagement kommt eher aus meinen Erlebnissen und Reisen. Ich denke, das ist eher eine Frage meiner Generation als meiner Religion. Ich weiß auch nicht, ob sich die vielen jungen muslimischen Flüchtlingshelfer Gedanken darüber machen, ob sie aus einem religiösen Motiv handeln. Wir müssen nicht alles, was Muslime tun, aus ihrer Religion herleiten, weder im Guten noch im Bösen.

Buchtipp: Navid Kermani, Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa. Verlag C. H. Beck, 96 Seiten, 10 Euro.