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Schulabsentismus ist mehr als Schwänzen – und raubt Lebenschancen

Dass Schülerinnen und Schüler regelmäßig im Unterricht fehlen, kommt nicht selten vor. Schulen und Fachleute entwickeln Hilfsstrategien. Die müssen sich allerdings noch etablieren – und helfen nicht gegen alle Probleme.

Manchmal, wenn man vormittags durch die Stadt läuft, stutzt man kurz: Das sitzen ein oder mehrere Kinder mit ihren Schulranzen auf einer Parkbank oder an einer Bushaltestelle. Man denkt: “Komisch, müssten die nicht in der Schule sein?” Aber vielleicht fällt ja der Unterricht aus, vielleicht haben sie eine Freistunde: Meistens wird eine harmlose Erklärung dahinterstecken. Manchmal leider auch nicht.

“Dass Schülerinnen und Schüler nicht zum Unterricht kommen, ist gar nicht selten: Fünf bis zehn Prozent schwänzen in Deutschland regelmäßig die Schule”, hat das Berufsbildungswerks Südhessen ermittelt. Das ist nicht nur deshalb alarmierend, weil es zu den wesentlichen Gründen dafür gehört, warum rund sechs Prozent der Jugendlichen jährlich die Schule ohne Abschluss verlassen. Es ist auch mit ursächlich für schlechte deutsche Pisa-Ergebnisse und fördert soziale Ungleichheit über Generationen hinweg.

Fachleute beobachten in den vergangenen Jahren keinen dramatischen, aber doch einen kontinuierlichen Anstieg von sogenanntem Schulabsentismus. “Aus rechtlicher Sicht spricht man von Schulabsentismus, wenn schulpflichtige Kinder oder Jugendliche unerlaubt der Schule fernbleiben”, erläutert Bettina Schartner-Ebelhäuser. Sie arbeitet im schulpsychologischen Team des Pädagogischen Landesinstituts Rheinland-Pfalz in Speyer.

Schulabsentismus bedeute, “dass entweder keine Entschuldigung für das Fehlen vorliegt oder dass die Gründe für das Fernbleiben von der Schule als nicht legitim angesehen werden.” Das gelte mitunter auch dann, wenn die Fehlzeiten von Eltern oder Ärztinnen und Ärzten entschuldigt werden, etwa bei vorgetäuschten Erkrankungen.

Das Forschungsprojekt “Jeder Schultag zählt” des Absentismusforschers Heinrich Ricking und eines Teams der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg unterscheidet drei Formen von Schulabsentismus: Zum einen gibt es das aversive Schulschwänzen, bei dem Kinder und Jugendliche dem Unterricht fernbleiben, um “angenehmeren außerhäuslichen Aktivitäten” nachzugehen. Das könne der klassische Jugendliche auf der Parkbank sein, der lieber mit seiner Clique abhängt, anstatt den Unterricht zu besuchen.

Nicht selten ist dieses Verhalten laut Forschungsergebnissen dort anzutreffen, wo das Elternhaus Desinteresse an Bildung und am Fortkommen des Kindes suggeriert. Bettina Schartner-Ebelhäuser beschreibt das so: “Auf der anderen Seite wird dem Schulbesuch, wenn er dann stattfindet, nicht ausreichend Beachtung geschenkt. Das führt dazu, dass es für die Kinder und Jugendlichen dadurch wenig Anreiz gibt, in die Schule zu gehen.”

Ein zweiter Grund für das Schulschwänzen ist schlichte Angst – Furcht, zu versagen und gemobbt zu werden, lähmt die Motivation. Schulabsentismus muss jedoch nicht immer vom Kind ausgehen: Der dritte Grund besteht im sogenannten Zurückhalten durch das Elternhaus. Dies kommt etwa dann vor, wenn Eltern Gewalt oder gar Missbrauch in der Erziehung verschleiern wollen oder psychisch krank sind und die Unterstützung ihrer Kinder benötigen.

Viele Fachleute sehen im ansteigenden Schulabsentismus eine Folge der Corona-Zeit. Auch Petra Schmidt vermutet dies. Sie ist stellvertretende Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft Hessen Sozialarbeit in Schulen. Seit 16 Jahren ist sie als Sozialarbeiterin an einer Gesamtschule in einer südhessischen Kleinstadt tätig.

“Viele Kinder und Jugendliche sind durch die Lockdowns vereinsamt”, sagt Schmidt. “Sie konnten ihre Freunde nicht mehr treffen, viele sind in Onlinemedien abgedriftet. Wir sehen die Auswirkungen, wenn sie sich bis heute schwertun, in größere Gruppen zu gehen.” Schmidt und ihr Team werden von Lehrkräften oder Eltern hinzugezogen, wenn ein Kind ständig in der Schule fehlt. Dass Mütter und Väter nicht kooperierten und das Jugendamt eingeschaltet werden müsse, erlebe sie eher selten, sagt Schmidt. Die Eltern seien vielmehr verzweifelt und suchten gezielt Hilfe.

Eines der Kernprobleme sieht Schmidt darin, dass es zu wenige Plätze in der Kinder- und Jugendpsychotherapie gibt. In der Schulsozialarbeit setzen viele Fachkräfte auch deshalb auf Prävention. “Dabei helfen Methoden wie der Klassenrat, bei dem die Kinder in regelmäßigen Abständen über Konflikte und Probleme sprechen”, sagt die Schulsozialarbeiterin. “Wir sind bei solchen Klassenratssitzungen oft dabei.”

Schulsozialarbeit und Schulpsychologie wurden seit den 2000er Jahren stärker und professioneller ausgebaut. Kommunen, Bundesländer und freie Träger bieten inzwischen an nahezu jeder deutschen Schule Hilfsprogramme für Kinder und Jugendliche mit schulischen und psychischen Problemen. Auch, wenn Fachärztinnen und Fachärzte rar sind, bieten Bildungseinrichtungen so zumindest eine erste Anlaufstelle.

Viele der Probleme, die Kinder miteinander haben, hätten mit Sozialen Medien zu tun: “Dort geschieht es häufig, dass sie sich gegenseitig beleidigen und herabwürdigen oder ‘Fake News’ übereinander verbreiten. Wir können leider wenig dagegen tun, außer sie zu sensibilisieren und ihnen zu zeigen, wie sie mit den Sozialen Medien umgehen müssen.”

Für Schmidt ist auch Teilhabe ein Schlüssel, um Schulabsentismus vorzubeugen: “Wenn wir wollen, dass die Kinder sich in der Schule wohlfühlen, müssen wir auch stärker auf Beteiligung setzen.” Leider sei das deutsche Schulsystem noch sehr hierarchisch aufgebaut. “Wenn Kinder und Jugendliche hier aber erfahren, dass sie gesehen, gehört und vor allem ernst genommen werden, spüren sie Selbstwirksamkeit. Und wenn sie Aufgaben übernehmen und mitgestalten können, gibt es ihnen die Möglichkeit, vielleicht anders mit Problemen wie Mobbing und Ausgrenzung umzugehen. Was sicherlich auch ein Schutz vor psychischen Erkrankungen und Schulabsentismus ist.”