Von Ulrich Lilie
Es ist eines der prägenden Erlebnisse in diesem August mit den Mitarbeitenden des Diakonissenhauses Niesky in der schlesischen Oberlausitz. Auf meiner Sommerreise quer durch Deutschland hatte ich bereits elf andere Träger, die besonders unter den Folgen der Corona-Pandemie gelitten haben, besucht. Nun betrat ich diese Einrichtung, die für ihre Senioren-, Kindertagesstättenarbeit und ihr Hospiz weit bekannt ist. Barbara Eschen, Direktorin des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, begleitete mich.
Im Gespräch mit den Mitarbeitenden wurde deutlich, wie immens die Belastungen in den vergangenen Monaten waren. Im Diakonissenhaus in Niesky sah es in vielfacher Hinsicht nicht anders aus als in vielen Einrichtungen landauf landab. Die Corona-Krise war gekommen „wie ein Dieb in der Nacht“ (1. Thessalonicher 5,2). Es fehlte an vielem, was man für solch einen Einbruch der Seuche braucht. Ausreichend Masken und Schutzanzüge waren wie überall schwer zu beschaffen. Es mangelte an klaren Vorgaben und Hilfestellungen der Behörden – einem Pandemie-Plan für den Fall der Fälle. Wie sollten die Senioren zugleich angemessen geschützt und ihre Teilhabe am Leben gewährleistet werden? Wie die Kindertagesstättenarbeit sinnvoll fortgesetzt werden? Was hieß das für das gerade neu gebaute Hospiz? Wie sollten bei alledem die Mitarbeitenden wirkungsvoll geschützt werden?
Vielleicht war es gerade dieses völlig Neue, das Disruptive, das Überfallartige, was diese stille Katastrophe so schwierig machte. Den Mitarbeitenden stand noch ins Gesicht geschrieben, wie sehr sie an dieser Lage gelitten hatten. Langsam, tastend, zögernd machte sich nun in und nach der Erschöpfung wieder neuer Lebensmut und Hoffnung Raum. Wie der Spross einer zarten Pflanze.
Diese eindrucksvolle Begegnung macht mehrerlei deutlich. Zum ersten die Kraft einer echten christlichen Gemeinschaft. Denn Sinn- und Orientierungsfragen tauchen in solchen Situationen unweigerlich auf. Da helfen biblische Lesungen, ein Gebet, hoffentlich ein stiller, einsamer Gesang. Kerzen anzünden für die Anvertrauten, ihre Angehörigen, die Mitarbeitenden.
Zum zweiten wurde mir noch einmal ganz neu bewusst, welchen Schatz wir an solchen pflegenden und erziehenden Menschen haben, die tagein tagaus ihre Frau und ihren Mann stehen. Ich weiß, es ist schwierig in einer postheroischen Gesellschaft von Helden zu sprechen, aber dennoch gingen mir diese wundervollen Menschen nicht mehr aus dem Sinn. Sie sind „Alltagsheld*innen“. Es wird höchste Zeit, dass diese – wie man nun sagt „systemrelevanten“ – Berufe endlich Rahmenbedingungen bekommen, die Menschen motivieren, auch zukünftig einen Job in der Pflege zu suchen. Neben anderen Personalschlüsseln geht es um bessere Rahmenbedingungen für die Pflegenden. Die Diakonie fordert seit langem eine Reform der Pflegeversicherung.
Zum dritten: Wir müssen diese Krisenerfahrungen nun miteinander aussprechen und auswerten – mit der Seelsorge, mit den Behörden, im therapeutischen Gespräch. Niemand weiß genau, wie es weitergeht. Eine zweite Welle gilt es zu verhindern, aber die Grippe kommt im Herbst sicher dazu. Was sind unsere „lessons learned“, zu lernenden Lektionen?