Artikel teilen

Rizinus unterm Kirchturmdach

Das ist ungewöhnlich: In 36 Meter Höhe befindet sich in Harzgerode in Sachsen-Anhalt das deutschlandweit einzige Apothekenmuseum in einer Kirche. Vor zehn Jahren eröffnete der „Freundeskreis Hasacamroth“ die Einrichtung

Manfred Seifert steigt die 80 schmalen Stufen auf den Turm der Harzgeröder St.-Marien-Kirche hinauf. Einen Weg, den er seit seiner Kindheit kennt. Hier lebte einst seine Tante Paula. Einige nannten sie Bimmel-Paula, wohnte und wachte sie doch bis 1956 mit ihrem durchs Holzbein gehandicapten Ehemann und sechs Kindern hier oben. In jenen 18 Turmjahren war Manfred Seifert unzählige Male in luftiger Höhe zu Besuch, kletterte an den Glocken und der Uhr vorbei hier hoch. Er erschreckte sich vor Mäusen und wusste, auf jedem Besuchsgang musste etwas mit hochgetragen und mit hinuntergenommen werden; Trinkwasser, Kohle, Abfall.

Bei jedem Gang wurde etwas mitgenommen

In einem Film für das DDR-Fernsehen berichtete die damals 88-jährige Paula Seifert, welche Aufgaben sie als letzte Türmerin von St. Marien zu leisten hatte: Sie musste von 22 bis 6 Uhr zu jeder vollen Stunde mit einem Signalhorn vermelden, dass alles in Ordnung ist. Da erleichterte es den Dienst, wenn die Familie groß war und man sich beim Signalgeben abwechseln konnte. Ein Glöckchen läutete, wenn von unten Gäste Eintritt erbaten. Es hängt neben dem altertümlichen Telefon, das im Zweiten Weltkrieg genutzt wurde, um anfliegende Flugzeuge zu melden.
2009 restaurierten Manfred Seifert und seine Mitstreiter des Freundeskreises Hasacamroth, wie die Stadt einst hieß, die obere Turm­etage, wo sich einst die Wohnräume der Türmerfamilie befanden – und noch heute die Turmfalken wohnen. Ein Jahr später folgte die untere Etage. Dann zog das kleine, aber feine Apothekenmuseum ein. Initiatorin der Dauerausstellung ist die ehemalige Inhaberin der Harzgeröder Berg-Apotheke Heidrun Probst, die zusammen mit der ebenfalls ehemaligen Pfarrerin von St. Marien, Anke Dittrich, sowie zahlreichen ehrenamtlichen Helfern das Projekt voranbrachte.

Ältestes Dokument: Gesellenbrief von 1748

Die Berg-Apotheke kann auf eine lange Geschichte zurückblicken, die 1649 ihren Anfang nahm. Damit zählt sie zu den ältesten in der weiteren Umgebung und gilt im anhaltischen Oberherzogtum sogar als die absolute Seniorin. Folgerichtig wartet die kleine pharmazeutische Schau mit einer Vielzahl von interessanten Exponaten auf. „Unser ältestes Dokument ist ein Gesellenbrief von 1748“, so Seifert. Zudem hängen von den jeweiligen Herzögen signierte Privileg-Urkunden für die Apotheker-Ahnen an den Turmwänden.
Der Name Berg-Apotheke gehe auf die Abbauregion zurück, während Adler-Apotheken gerade auf preußischem Staatsgebiet weit verbreitet waren. In 36 Metern Höhe sind in der St.-Marien-Kirche in drei Räumen und dem Flur Pillenbrett, ein Drogenschrank und eine Kupferdestille zu sehen. Natürlich darf auch die in der Apotheken-Betriebs-Ordnung für das Herzogtum Anhalt von 1903 geforderte Nachtglocke nicht fehlen.
Dass die Schau im Kirchturm zu betrachten sei, ist keineswegs weit hergeholt. „Die Anfänge der Heilkunde sind bei uns auf die intensive Beschäftigung in den Klöstern mit den Kräutern aus der Natur zurückzuführen. Lange Zeit waren Nonnen und Mönche die einzigen Heilkundigen, die auch ihre Erkenntnisse schriftlich niedergelegt haben“, erklärte die Pfarrerin bei der Eröffnung. Heidrun Probst räumte für das Museum nicht nur den Speicher der Berg-Apotheke, sondern gab den Kirchenführern auch eine gute Handreichung für ihre Turmrundgänge mit den Besuchern auf den Weg.
Eine weitere Besonderheit der Kirche findet sich ganz unten: Im Gewölbe wurden einst Fürst Wilhelm von Anhalt-Bernburg-Harzgerode sowie seine erste Gemahlin prunkvoll beigesetzt. In zwei Holzsärgen liegen Nichten des Fürsten; eine davon ist eine lokale Berühmtheit, die mumifizierte „Blekprinzessin“ Wilhelmine Augusta von Solms-Sonnenwalde (1697–1767), eine Prinzessin von Anhalt, die Besuchern mit Vorliebe die Zunge, die „Bleke“, herausgestreckt haben soll.

Seit zehn Jahren ist das Museum in Betrieb

Zurück in luftiger Höhe erklärt Kirchen- und Museumsführer Seifert den Besuchern, warum ein Behälter weiß auf schwarz, der andere rot auf weiß beschriftet ist oder was runde, sechs- und dreikantige Flaschen unterscheidet. Durch die Fenster geht der Blick auf die Stadt und zum Horizont, an dem man bei gutem Wetter Ramberg, Brocken und Josephskreuz sehen kann.
Manfred Seifert wirkt zufrieden: „Seit 2006 besuchten 150 000 Interessierte die St.-Marien-Kirche mit dem Apothekenmuseum und dem Gewölbe. Unsere Arbeit hat sich wohl gelohnt.“