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Proteste in Serbien – Präsident Aleksandar Vucic vor Bewährungsprobe

Seit Monaten gibt es Massenproteste in Serbien. Nächste Woche werden erneut Zehntausende Demonstranten in der Hauptstadt Belgrad erwartet. Was bedeutet das für die Zukunft des Balkanstaats?

Serbien kommt nicht zur Ruhe. Anhaltende Studentenproteste gegen die Regierung erschüttern das EU-Beitrittskandidatenland. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) beantwortet die wichtigsten Fragen zu der politischen Krise.

Am 1. November stürzte in Serbiens zweitgrößter Stadt Novi Sad das Vordach des Hauptbahnhofs ein. 15 Menschen starben, mehrere wurden verletzt. Viele Serben vermuten unfachmännische Arbeit und Korruption: Der Bahnhof war erst kurz vor dem Unglück durch ein chinesisches Konsortium renoviert worden. Bei den jüngsten Massenprotesten warfen Kritiker der Regierung vor: “An Euren Händen klebt Blut” und “Korruption tötet”.

Vor allem Studenten und junge Serben. Ihnen schlossen sich im Lauf der Protestwelle immer mehr Berufsgruppen an: Lehrer, Professoren, Landwirte, Anwälte. Auch Vorstellungen am serbischen Nationaltheater mussten abgesagt werden, weil sich das Opernorchester mit den Studenten solidarisierte.

Der frühere serbische Bau- und Infrastrukturminister Goran Vesic ist nach wachsendem Druck zurückgetreten. Auch Ministerpräsident Milos Vucevic kündigte Ende Januar den Rücktritt an. Anfang März erhob die Staatsanwaltschaft in Belgrad Klage gegen drei weitere Projektverantwortliche, untersucht werden jetzt erstmals auch die Finanzierung der Bauarbeiten und mögliche Korruption.

Nein. Denn einerseits werfen die Studenten der Regierung Geheimhaltung vor, auch seien längst nicht alle ihre Forderungen erfüllt, etwa die Begnadigung angeklagter Demonstranten. Andererseits geht es den Studenten inzwischen um weit mehr. Bei einem Protest in der südserbischen Stadt Nis erklärten sie: “Wir werden Ungerechtigkeit, Korruption und das unwirksame System, das uns einschränkt, nicht länger akzeptieren.”

Er ist der Kopf des serbischen “Systems”. Kritiker werfen ihm eine zunehmend autoritäre Staatsführung vor. Seine Serbische Fortschrittspartei (SNS) kontrollierte alle Regierungsebenen, vom Rathaus bis zum Parlament, und übt weiten Einfluss auf Medien aus. In den regierungstreuen TV-Sendern erklärt Vucic den Serben regelmäßig die Welt. Die Protestwelle bezeichnete er als “drei Monate der Blockaden, Zerstörung, Faulheit, Verantwortungslosigkeit und Verwüstung”. Unterstützt würden die Studenten von ausländischen Kräften, die zum Ziel hätten, Serbien zu zerstören.

Aktuell sei es unmöglich, zuverlässig vorherzusagen, ob die Proteste das Ende von Vucics Amtszeit einläuten könnten, sagt Adnan Cerimagic, Südosteuropa-Experte der Denkfabrik European Stability Initiative. Jedoch seien Intensität, Dauer und Hartnäckigkeit der Proteste “beispiellos”. Bereits im Jahr 2000 führten Massenproteste in Belgrad zum Rücktritt des jugoslawischen Machthabers Slobodan Milosevic. Angesichts der neuen Proteste, die jene vor 25 Jahren übertreffen, gehen Experten davon aus, dass die Regierung in irgendeiner Weise weiter nachgeben muss.

Vor wenigen Tagen lief eine Sitzung des Parlaments völlig aus dem Ruder. Abgeordnete der Opposition zündeten Rauchbomben und protestierten mit Bannern und Tröten. Mehrere Abgeordnete wurden verletzt. Parlamentspräsidentin Ana Brnabic (SNS) beschimpfte die Opposition als “Terrorbande”.

Als größte Glaubensgemeinschaft des Landes steht die serbisch-orthodoxe Kirche in der Kritik, indirekt die Regierung zu unterstützen. Einige ihrer Würdenträger verurteilten die Studentenproteste. Doch gibt es auch Bischöfe und Priester, die den Studenten den Rücken stärken. Daher berichteten serbische Medien in den vergangenen Tagen von Anzeichen einer drohenden “Spaltung” innerhalb des Klerus.

Der Westen akzeptierte Serbien lange als “Stabilokratie” auf dem Balkan: Solange das einflussreiche Belgrad Frieden in der Region wahrte, drückte man bei zweifelhaftem Vorgehen bisweilen beide Augen zu. Das ändert sich – wenn auch schleppend. So bezeichnete die slowenische EU-Erweiterungskommissarin Marta Kos Serbiens jüngste Attacken gegen die Zivilgesellschaft, darunter Spionageangriffe und Razzien, als “besorgniserregend”. Reformen seien nötig, wolle Serbien der Union beitreten.