Artikel teilen

Pflegearbeit in Europa vor allem auf den Schultern der Frauen

Pflegeleistungen werden in ganz Europa überwiegend von Frauen erbracht. Unentgeltlich. Doch manche Länder haben es geschafft, die Ungleichheit zu verringern. Vor allem durch einen Ausbau öffentlicher Pflegeangebote.

“Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass es dir wohl ergehe und du lange lebest auf Erden”, so heißt es im vierten der zehn Gebote der Bibel. Es ist ein pragmatischer Versorgungsauftrag, den das Alte Testament da erteilt: Kinder sollen sich um ihre Eltern kümmern, wenn diese alt und gebrechlich sind. Ins Heute übersetzt heißt es bei vielen Politikern: Die Familie ist der wichtigste Pflegedienst der Nation: Ohne sie bräche das Gesundheitssystem zusammen.

In Deutschland beziehen derzeit etwa fünf Millionen Personen Leistungen der Pflegeversicherung. 83 Prozent werden zuhause gepflegt – von den Angehörigen, manchmal mit Unterstützung ambulanter Pflegedienste. Doch schaut man genauer hin, sind es vor allem die Frauen, die diese Arbeit schultern. Meist unentgeltlich. Eine am Mittwoch in Berlin veröffentlichte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) für 17 Länder zeigt, dass diese ungleiche Verteilung der sogenannten Sorgearbeit zu Lasten der Frauen wohl in allen europäischen Ländern vorherrscht. Das passt zu einer 2022 im EU-Parlament vorgestellten Studie, nach der in der EU 75 Prozent aller Pflegeleistungen von Frauen erbracht werden.

Aber dennoch gibt es gravierende Unterschiede: Während in nord- und osteuropäischen Ländern insgesamt seltener informell gepflegt wird, ist die Häufigkeit informeller Pflege in süd- und westeuropäischen Ländern insgesamt höher.

Konkret heißt das: In Portugal, der Schweiz und Schweden ist die Ungleichheit bei der Pflege zwischen den Geschlechtern am geringsten. Hier pflegen Frauen etwas weniger als doppelt so oft wie Männer. In den Ländern mit dem höchsten “Gender Care Gap” – Luxemburg, Griechenland und Kroatien – ist der Anteil der pflegenden Frauen rund dreimal so hoch wie der Anteil pflegender Männer. Deutschland liegt im Mittelfeld: Frauen pflegen etwas mehr als doppelt so häufig die Angehörigen wie Männer.

Bei der Suche nach den Ursachen haben die Autorinnen und Autoren der Studie zwei zentrale Befunde herauskristallisiert: Je stärker ein Land in professionelle Pflege durch ambulante Pflegedienste, Tagespflege, stationäre Einrichtungen oder neue Wohnformen investiert, desto geringer die Ungleichheit bei den Pflegeleistungen. In Schweden etwa, so die Wohlfahrtsforscherin Cornelia Heintze, wird Pflege zu annähernd 100 Prozent öffentlich finanziert wird. Das heißt natürlich auch, dass der Staat im Schnitt zwei- bis dreimal so viel Geld in die Pflege steckt wie in Deutschland.

Ein weiterer Grund für Ungleichheit sind geschlechtsspezifische Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt: Frauen verdienen oft weniger und arbeiten weniger Stunden als ihre männlichen Partner, so dass eine Verringerung oder Aufgabe ihrer Beschäftigung für die Pflege das Haushaltseinkommen in geringerem Maße belastet.

Für die Autoren der Studie ist klar: Deutschland kann von den Nachbarstaaten lernen, wenn es um eine gerechtere Verteilung von Sorgeleistungen geht. Das Land müsste mehr in formelle Pflege investieren und Angebot und Qualität erhöhen, um den Aufwand der Angehörigen für die informelle Pflege zu reduzieren.

Zumal sich die Bedingungen für private Pflege in den kommenden Jahren deutlich verschärfen werden: Aktuell wird die informelle Pflege noch von geburtenstarken Jahrgängen getragen. Diese Altersgruppen werden aber mittelfristig selbst Pflegeleistungen nachfragen. Ein großes Problem ist allerdings der wachsende Fachkräftemangel in der professionellen Pflege: Laut Statistischem Bundesamt liegt die erwartete Zahl an Pflegekräften im Jahr 2049 mindestens 280.000 unter dem erwarteten Bedarf.

Um die Ungleichheit bei der Care-Arbeit zu verringern, fordert die Studie zudem, mehr Männer für die informelle Pflege zu mobilisieren. “Dieses Ziel ist aber vermutlich nur sehr langfristig zu erreichen.” Entscheidend dafür ist aus Sicht der Autorinnen und Autoren, dass die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt verringert wird. Dieses Ziel könne etwa durch eine Reform des Ehegattensplittings oder eine verbesserte Betreuung von Kindern erreicht werden, die eine Vollzeiterwerbstätigkeit von beiden Eltern ermöglichen würde.