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Pfarrerin: Nicht alle Flüchtlinge unter Generalverdacht stellen

Generalverdacht tut Millionen Geflüchteten Unrecht. In der Debatte um Migrationspolitik fehlt der EKBO-Beauftragten für Integration, Dagmar Apel, dass Menschen mit Fluchterfahrung zu Wort kommen.

Dagmar Apel, Pfarrerin und kirchliche Beauftragte für Integration in der EKBO
Dagmar Apel, Pfarrerin und kirchliche Beauftragte für Integration in der EKBOEKBO

Frau Apel, finden Sie es richtig, dass Bundeskanzler Olaf Scholz am Individualrecht auf Asyl, wie es im Grundgesetz verankert ist, festhält?
Dagmar Apel: Es ist äußerst unerfreulich seit Wochen mitzuverfolgen, dass Partei- und Machtpolitik auf dem Rücken von Migrant:innen ausgetragen wird, ja, dass man der AfD zum Munde redet. Es fehlen Sätze wie: Grenzen seien nicht mit Zäunen zu schützen und ja, wir schaffen das. Kanzler Scholz hat die Grundlage unseres Rechtssystems ins Gespräch gebracht und das ist auch richtig und gut so.

Wie kann vermieden werden, dass syrische und afghanische Geflüchtete, die in Deutschland leben, jetzt unter Generalverdacht geraten?
Der Vorschlag von Finanzminister Lindner, den Geflüchteten alle finanziellen Zuwendungen zu streichen außer Nahrung und Hygieneartikel bestraft alle Geflüchteten, die vor Terror, Gewalt und Krieg fliehen. Es wird ein Generalverdacht unterstellt, alle Migrant:innen seien kriminell. Darunter leiden jetzt alle, die nach Deutschland gekommen sind und einen Asylantrag gestellt haben.

Es ist notwendig, Menschen mit Fluchterfahrung und Menschen, die sich in Deutschland integriert haben, selbst zu Wort kommen zu lassen. Das fehlt mir im Moment sehr. Wir müssen es direkt von den Menschen hören, wie es ihnen geht und was ihr Grund zur Flucht war. Nur so kommen sie auch aus dem Generalverdacht heraus. Dieser tut Millionen Menschen Unrecht. Aber leider verkauften sich nur die Nachrichten der Politiker:innen gut, die schlechte Stimmung gegen Migrant:innen machen. Ich kann da nur „Amal, Berlin!“ empfehlen. Eine Online-Plattform von Journalist:innen aus Syrien, Afghanistan, Iran, Irak, Ukraine, die über die deutsche Gesellschaft schreiben.

Das Bedürfnis nach Schutz vor Terrorangriffen wie in Solingen ist dennoch groß. Auch deshalb soll die irreguläre Migration reduziert werden. Können geflüchtete Menschen an europäische Grenzen zurückgeschickt werden?
Der Anschlag von Solingen, so wie alle anderen Anschläge, ist grausam und durch nichts zu rechtfertigen. Mir tun alle Menschen leid, die so einen Horror miterleben mussten. Er erhält durch die islamistische Ideologisierung eine noch schwerwiegendere Bedeutung. Natürlich muss über Schutz und Prävention nachgedacht werden. Gelder für Einrichtungen und Beratungsstellen für Geflüchtete, die traumatisiert wurden, zu streichen oder stark zu reduzieren hilft dabei sicherlich nicht. So wie das in Berlin und anderen Orten geschieht. Denn soziale, rechtliche und medizinisch-psychologische Begleitung ist zentral für die Integration von Menschen mit Fluchterfahrung. So sieht gute Gewaltprävention aus.

Es gibt in dem Sinne keine reguläre oder irreguläre Migration. Resettlement-Programme wären reguläre Migration, die aber in Deutschland so gut wie nicht mehr durchgeführt wird. Im Moment werden Menschen nicht an die europäischen Grenze zurückgeschoben, sondern in das Land, in dem sie in Europa angekommen sind. Das besagt die Dublin-Verordnung. Aber dem Europäischen Rat liegt die überarbeitete Rechtsform zur Beschlussfassung vor, die die Zentralisierung von Geflüchteten an den europäischen Grenzen vorsieht.

Wie realistisch sind mehr Abschiebungen?
Es gibt verschiedene Formen der Abschiebung: Individualabschiebungen, Sammelabschiebungen und Abschiebungen von Straftätern. Abschiebungen sind in der Durchführung schwierig und ein nicht-öffentlicher Prozess. Dafür gibt es die Abschiebebeobachtung. Wir haben zwei Abschiebebeobachterinnen am Berliner Flughafen (BER), die auch von uns Kirchen mitfinanziert werden. Ich bin im Forum Abschiebebeobachtung und mir sind diese Vorgänge vertraut geworden. In der Tat hat sich die Anzahl der Abschiebungen erhöht, aber nur, weil in Corona-Zeiten Abschiebungen zurückgenommen wurden.

Was bei der ganzen Diskussion um Abschiebungen nicht gesagt wird ist, dass Abschiebungen enorm kostenaufwendig sind und die abgeschobenen Personen oftmals wieder in die Bundesrepublik einreisen und erneut Asylanträge stellen.

Wie beurteilen Sie den Abschiebeflug am 30. August mit 28 Menschen nach Afghanistan, die hier Straftaten begangen haben?
Die Abschiebung nach Afghanistan am 30. August war eine Abschiebung mit Straftätern und ausgewiesenen Schwerkriminellen. Was durchaus schwer zu vermitteln ist, ist, dass auch diese Personen Menschenrechte haben und nach unseren Wertmaßstäben und Grundrechten nicht in Länder abgeschoben werden dürfen, in denen ihnen Folter und Tod droht. Egal welchen Aufenthaltsstatus sie haben. Nach allem was wir wissen, wurden keine unabhängige Abschiebebeobachtung oder Monitoring-Stelle informiert und die Menschen konnten keinen Rechtsschutz in Anspruch nehmen.

Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan sorgen weder für mehr Sicherheit noch für Gerechtigkeit, sondern schädigen unsere Grundrechte und unser Demokratieverständnis.

Sie haben viel Kontakt mit geflüchteten Menschen, kennen ihre Fluchtgründe. Sind Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan überhaupt vertretbar?
Syrien und Afghanistan sind unsichere Länder. In Syrien herrscht immer noch Krieg und Terror und in Afghanistan werden die Menschenrechte nicht angewandt. Darum fliehen Menschen eben auch. Weil sie Drohungen und Anschläge am eigenen Leib erfahren haben und weil Familienmitglieder gewaltsam zu Tode gekommen sind. Und so sind Abschiebungen in diese Länder nicht zu vertreten. Ich betreue einen Mann aus Afghanistan seit zwei Jahren, von dem sechs Familienmitglieder von den Taliban ermordet wurden.

Was ist mit geflüchteten Frauen? In Afghanistan haben die Taliban gerade neue Regeln für Frauen erlassen, sie dürfen praktisch gar nichts mehr. Ist es moralisch vertretbar diesen Frauen kein Asyl zu gewähren?

Vielen Frauen in Afghanistan und im Iran geht es schlecht. Sie werden komplett aus der Öffentlichkeit verdrängt. Unsere Informationen darüber sind eher lückenhaft und vage. Aber das Bundesprogramm für Afghanistan läuft noch und natürlich werden da vorrangig auch Frauen aufgenommen. Die Sicherheitskontrolle ist sehr hoch. Ich selbst begleite eine Familie, die sich in Islamabad befindet und auf ihr Sicherheitsinterview in der deutschen Botschaft wartet.

Das Kirchenasyl bewahrt als letztes Mittel Menschen vor Abschiebungen bei abgelehntem Asylantrag, wenn Schaden an Leib und Seele droht. Wird es nun weiter unter Druck geraten?
In Mecklenburg-Vorpommern kam es im Dezember letzten Jahres zu einer gewaltvollen Räumung eines Kirchenasyls. Auch in Nordrhein-Westfalen gab es mehrere Versuche von Räumungen von Kirchenasylen. Die Situation ist besorgniserregend und angespannt.

Wir führen hier in Berlin und auch in Brandenburg immer wieder Gespräche mit Vertreter:innen der zuständigen Senatsbehörde von Berlin und der zuständigen Landesbehörde in Brandenburg zum Kirchenasyl, um Transparenz und Schutz bestmöglich zu gewährleisten. Wir haben im Augenblick circa 100 Kirchenasyle laufen. Im letzten Jahr hatten wir in unserer Landeskirche 200 Kirchenasyle mit etwa 300 Personen, die hier Schutz gefunden haben. Wir erhalten sehr viele Hilfegesuche von Geflüchteten, die ins Kirchenasyl wollen und Angst vor Abschiebung haben. Leider haben wir nicht genug Kirchenasylplätze, obwohl sich viele Kirchengemeinden in den letzten Monaten dazu entschieden haben, Menschen aufzunehmen. Ihnen sei ganz herzlicher Dank gesagt, denn der Druck wächst auf allen Seiten.