„Mensch vor Zensur“ war man sich im Sommer 2022 beim schweize-rischen IT-Dienstleister Swisscom einig und verlangte von künftigen Auszubildenden keine Schulzeugnisse mehr. Weil Noten und ihre subjektive Beurteilung nach Ansicht der Unternehmensführung keine Garanten für erfolgreiche Nachwuchsgewinnung und -förderung sind.
Ausbildungsbetriebe setzen aktuell nicht ausschließlich auf gute Schulzeugnisse, sondern auf Fähigkeiten, die in künftigen Arbeitswelten gefragt sind: Neugierde, Kreativität, Teamgeist, emotionale Intelligenz oder schlicht Liebe zum Beruf. Zwar sind notenfreie Schulformen momentan noch nicht mehrheitsfähig, dennoch sprechen viele Gründe für eine ziffernfreie Beurteilung. Ohnehin sind Zensuren aus lern- und entwicklungspsychologischer Sicht ein sehr ungenaues und restriktives Mittel, um die tatsächlichen Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern widerzugeben.
„Karriere in der Gosse“
Mein Mathematiklehrer prophezeite mir vor der Abi-Prüfung eine „Karriere in der Gosse“ und meinte, dass ich in seinen Augen nicht nur für die Mathematik verloren sei, sondern für das Leben überhaupt.
30 Jahre später war eine Lehrerin meines Sohnes felsenfest überzeugt, dass er fremdsprachlich außerordentlich unbegabt ist und manifestierte ihre Erkenntnis mit einer „saftigen“ Note im Zeugnis. Heute spricht der Sohn fließend Französisch, studiert erfolgreich Französisch und Geschichte für das Lehramt, hat Spaß und kann den demotivierenden Charakter seiner Schulzeit nicht mehr verstehen. Es kommt anders, wenn man denkt.
Das Bildungssystem misst ungenau
Fachliche und überfachliche Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern entwickeln sich dynamisch und komplex. Was Pädagogen wenig wahrnehmen oder nicht durchschauen können, interessiert dafür immer mehr Unternehmen. Adecco, einer der weltweit größten Personaldienstleister, geht davon aus, dass schulische Lehrinhalte und Abschlüsse bereits nach drei Jahren ihren Wert für die Marktbedürfnisse verlieren. Mit dieser Dynamik können Schule und Zeugnisse nicht mithalten. Das aktuelle Bildungssystem misst dazu nur ungenau, was Schülerinnen und Schüler tatsächlich leisten.
Sind schlechte Noten ein Ansporn?
Dennoch halten Eltern, Lehrkräfte und auch Schülerinnen und Schüler in Deutschland an Zensuren fest. Nele McElvany, Bildungsforscherin und Hochschullehrerin an der Technischen Universität Dortmund, ist überzeugt, dass sich Kinder gern vergleichen. Noten von eins bis sechs ermöglichen zudem Abgrenzungen gegenüber allen, die später zu Konkurrenten um Studien- oder Ausbildungsplätze werden können. Ob schlechtere Noten für Leistungsschwächere jedoch ein Ansporn sind, bleibt fraglich.
Der Erziehungswissenschaftler und Bildungsjournalist Hans Brügelmann bemängelt: „Was Noten fehlt, ist die Mehrperspektivität.“ Diesen Blick über den Notendurchschnitt hinaus praktizieren – zum Teil mit herausragendem Erfolg – die evangelischen Schulen der Evangelischen Schulstiftungen der EKD und der EKBO. Nicht nur reformpädagogische Ansätze und motivierender, stärkender Unterricht begründen dort die Lust am Lernen und Entdecken schulischer Inhalte. Vielmehr sind es die Lehrkräfte, die in enger Abstimmung mit Eltern und regionalen Netzwerken Schule vollkommen anders gestalten. Sie entwickeln lebendigen Unterricht, die Interessen der Schülerinnen und Schüler werden stark gefördert und dialogische Prozesse beugen der „Aussortierungsmentalität“ im Bildungssystem vor.
Evangelische Schulen
Noch sind nicht, wie zum Beispiel in Finnland, alle Wege „nach oben“ offen. Im europäischen Nachbarland können Prüfungen, besonders die „vergeigten“, jederzeit unbürokratisch nachgeholt werden. Zumindest die evangelischen Schulen arbeiten jedoch an einem System, das Kinder und Jugendliche stärkt und ihre Fähigkeiten nicht allein durch Zensuren sichtbar macht.
Gestern kam die Tochter mit ihrem Zeugnis nach Hause. Ich schaue es mir bei Gelegenheit mal an. Zunächst jedoch werden wir den größten Eisbecher der Welt verputzen, ihn anschließend benoten und dann sommerliche Ferien genießen. Zensuren – wer braucht die schon …