Menschenmassen haben Macht – und können gefährlich sein. Die Journalistin Solmaz Khorsand zeigt in einem neuen Buch, wie Machtstrukturen funktionieren. Und warum Mitmachen in einer Gruppe fast immer problematisch ist.
Lemminge gelten als das Sinnbild für den naiven Mitläufer – so naiv, dass sie einem Anführer sogar in den Tod folgen. Doch Denkfaulheit kann in bestimmten Zusammenhängen gefährlich werden – auch für andere, warnt die Journalistin Solmaz Khorsand. Dann nämlich, wenn sie eine zerstörerische Macht legitimiert. In ihrem Buch “Untertan. Von braven und rebellischen Lemmingen”, das am Montag erscheint, erklärt Khorsand unter Einbeziehung wissenschaftlicher Ansätze, warum Gruppen oft unreflektiert handeln. Wie Mitläufer Alphatieren zur Macht verhelfen. Und wie “brave” Lemminge Widerstand leisten können.
Gruppen entwickeln sich demnach aus der Abgrenzung gegenüber anderen. “Damit es ein “wir” gibt, braucht es zunächst ein “ihr””, sagt Khorsand im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Anfangs wirken autoritäre Gruppen demnach oft harmlos. Manche stellen sich sogar als Widerstandskämpfer dar. Adolf Hitler etwa kam demokratisch und als Vorsitzender einer Protestpartei an die Macht.
Laut dem österreichischen Psychoanalytiker Raoul Schindler folgen Gruppen stets einer bestimmten Ordnung: Im Zentrum steht eine Alphafigur mit vereinzelten Gegenspielern, umgeben von einer Masse an Mitläufern. “Ohne sie funktionieren Gruppen nicht”, sagt Khorsand. Demonstrationen und Parteien sieht sie deshalb generell kritisch, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung. “Die Gruppendynamik ist die gleiche”, sagt Khorsand. “Gruppen funktionieren, indem eine Gefolgschaft Dinge tut, die jemand befiehlt.”
Die Abkehr von einer Gruppe sei oft mit existenziellen Ängsten verbunden. Auf bestimmte Privilegien, argumentiert etwa die österreichische Philosophin Isolde Charim, muss ein Aussteiger verzichten. Wer zum Beispiel die NSDAP verließ, musste mit beruflichen Einschränkungen rechnen. Im Nationalsozialismus bezahlten überzeugte Rebellen wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg oder die Geschwister Hans und Sophie Scholl sogar mit dem Tod.
Khorsand zeigt in ihrem Buch, dass Ängste allerdings nicht immer gerechtfertigt sind. Die Loslösung von autoritären Strukturen könne sogar neue Freiheiten bedeuten: Wer nicht gehorcht, der wird nicht mehr automatisch unterdrückt. Das Leben ohne die Gruppe ist allerdings ungewiss und mit Risiken behaftet. “Das Spiel mit der Angst ist deshalb eine beliebte Taktik von Gruppen”, sagt Khorsand. “Wer geht, wird ausgeschlossen.”
In autoritären Strukturen würden Ängste deshalb bei vielen Menschen überwiegen. Für den US-amerikanischen Historiker Howard Zinn ist der Ungehorsam sogar mehr Ausnahme als Regel. In seinem Essay “Disobedience and Democracy” beobachtet er, dass die Geschichte “unendlich viel mehr Beispiele für die Duldung von Ausbeutung und Unterwerfung unter eine Autorität als Beispiele für den Aufstand” liefere.
Khorsand sieht Ängste trotzdem nicht als Entschuldigung für Mitläufer. “Jede noch so autoritäre Gruppendynamik verfügt über Freiräume”, sagt sie. Rebellion könne auch im Kleinen stattfinden: “Wer im Zweiten Weltkrieg nicht kämpfen wollte, konnte Krankheit simulieren.”
Ist eine Gesellschaft ohne Autorität und Gehorsam aber überhaupt möglich? Droht ohne Anpassung Anarchie? “Ein Stück weit müssen wir uns immer an unsere Umgebung anpassen, um eine friedliches Zusammenleben zu ermöglichen”, sagt Khorsand. Das Einhalten von Regeln sieht sie aber nicht als Mitläufertum. “Das Anschließen an eine Gruppe wird dann problematisch, wenn es nicht aus eigener Überzeugung geschieht sondern aus Denkfaulheit”, so die Autorin. “Erst unreflektierte Mitläufer können autoritäre Herrscher legitimieren.”
Wie reflektiertes Anschließen an Gruppen passieren kann, ohne sich auf die laut Khorsand typische Gruppendynamik von Alphas und Untergebenen einzulassen, wird aus dem Text nicht klar. Um autoritäre Strukturen einer komplexen Gruppe wie einer Partei oder einer Organisation zu revolutionieren, so gibt Khorsand zu, genügt Widerstand im Kleinen nicht mehr, sondern müssen Widerständler “Mehrheiten finden”. Ihr Buch macht aber damit deutlich, wie schwierig es ist, völlig unabhängig zu denken – und vom braven zum rebellischen Lemming zu werden.