Siegfried Dehmel
„Wenn ich die Tür öffnete, war ich im Osten“
Im Herbst 1959 war ich nach meiner Ausbildung in Wuppertal als Mitarbeiter der Berliner Stadtmission in den Westteil der Stadt gekommen. Die Stadtmission übertrug mir die Leitung der kleinen Gemeinde in der Liesenstraße 6 im Wedding.
Das Wohnhaus, in dem sich die Gemeinde in einem kleinen Saal im Hinterhof traf, gehörte der Domgemeinde. Es war ein kleines Unikum. Die Vorderfront bildete die Grenze zwischen West- und Ostberlin. Wenn ich die Eingangstür öffnete, war ich „im Osten“. Diese Tür wurde gleich in den ersten Tagen nach Beginn des Mauerbaus zugemauert.
Dass meine Frau und ich als Neuberliner zu diesem Zeitpunkt so recht begriffen, was diese „Mauer“ für die Menschen und ihre Beziehungen miteinander bedeuteten, glaube ich nicht. Wir hatten an diesem Sonntag zum Mittagessen einen jungen Mann eingeladen. Er blieb nicht lange. „Ich kann jetzt nichts essen, wo sie einen Stacheldrahtzaun durch die Stadt ziehen. Ich muss dorthin, ich habe doch Verwandte und Freunde drüben!“
Unsere Gottesdienste in der Liesenstraße fanden am Sonntagabend um 18 Uhr statt. Würde das an diesem Abend gehen? Das Haus war von Westen her noch offen. Aber die Gemeindeglieder von „drüben“ mussten über die Chausseestraße erst in den Westen, um in den Saal zu kommen. Dieser Weg war ihnen nun versperrt. Es durfte niemand mehr von Ost nach West.
Wir hielten unseren Gottesdienst mit einer Handvoll Westler. Auch die vier jungen Diakonissen aus der Schwesternstation in der Wöhlertstraße fehlten. Die Fenster des Saales waren geöffnet und fünf Meter entfernt von ihnen sah man den Vopo, der routinemäßig seine Streife lief. Wenn er wollte, konnte er hören, was ich predigte. Ich erinnere mich, es war an diesem Sonntag die Geschichte von David und Goliath. Am nächsten Sonntag, als wir wie gewohnt zum Gottesdienst kamen, war die Eingangstür zugemauert. Ich konnte als Westberliner noch Besuche in der Wöhlertstraße machen, aber die Gemeinde war ihres Raumes beraubt. Wenige Wochen später durfte auch niemand mehr mit einem Westausweis Ostberlin betreten.
In den ersten Tagen nach dem 13. August 1961 haben sich einige Menschen aus den Fenstern der Wohnungen in der Liesenstraße 6 nach Westen abgeseilt. Darunter war auch ein junger Vopo. Um das zu verhindern, wurde das ganze vierstöckige Wohnhaus bis auf drei Meter der Vorderfront abgerissen.
Siegfried Dehmel ist Pfarrer im Ruhestand der Berliner Stadtmission.
Wolf Krötke 1961 auf Paddeltour.
Wolf Krötke
„Berlin ist zu“
Wolf Krötke war gerade auf Paddeltour, als er vom Mauerbau erfuhr. Der Ausflug endete schlagartig.
„Berlin ist zu“ – so rief uns am 13. August 1961 morgens in der Frühe eine Frau auf der anderen Seite des Kanals wild gestikulierend zu, als wir gerade unseren Kopf aus dem Zelt steckten. Ich befand mich an diesem Sonntagvormittag mit meinem Freund auf einer langen Paddelboot-Tour durch die halbe DDR. Wir waren in Dessau gestartet und auf der Elbe und der Havel sowie durch die Brandenburgischen und Mecklenburgischen Gewässer bis nach Bad Kleinen gelangt. Nun waren wir auf dem Rückweg irgendwo im Norden von Berlin angekommen. Da stoppte uns an jenem Sonntagmorgen die Hiobsbotschaft: „Berlin ist zu“. Denn sie bedeutete für uns: Aus dem Studium an der Kirchlichen Hochschule in Berlin-Zehlendorf wird nichts.
Wir hatten uns nämlich zum Herbstsemester 1961 am „Sprachenkonvikt“ in Ostberlin beworben. Das war damals keine selbständige Hochschule, sondern eine Zweigstelle der Kirchlichen Hochschule in Berlin-Zehlendorf. Zwar fanden in der Borsigstraße auch einige Lehrveranstaltungen statt, ansonsten aber fuhr man jeden Tag vom nahe gelegenen Nord-bahnhof mit der S-Bahn nach Westberlin. Der Mauerbau machte damit Schluss.
Um zu klären, was nun aus unserer Bewerbung werden sollte, beschlossen wir, uns selbst ein Bild von der Lage zu machen. Wir paddelten noch ein Stück und „parkten“ unser Boot an einer sicheren Stelle. Dann umkreisten wir mit dem alsbald „Sputnik“ genannten Zug Westberlin und gelangten so in die Borsigstraße. Dort trafen wir einen ziemlich aufgeregten Ephorus an. Er beschwor uns, unsere Bewerbung doch ja nicht zurückzuziehen. „Denn“, so sagte er, „wenn nun auch noch die Studenten wegbleiben, dann ist ja alles aus.“ Wir heiterten ihn auf, indem wir versprachen, bei unserer Bewerbung zu bleiben.
Im Herbstsemester 1961 waren dann tatsächlich circa 100 Studierende am Sprachenkonvikt eingeschrieben. Das beförderte den Beschluss der Berlin-Brandenburgischen Kirche, in der Borsigstraße eine selbständige Kirchliche Hochschule einzurichten. Auf den ersten Blick geschah das auf ziemlich abenteuerliche Weise. Professoren waren ja nicht mehr da. Die wohnten in Westberlin. Nur Heinrich Vogel durfte noch kommen. Darum wurden die Assistenten der Kirchlichen Hochschule Zehlendorf, die in Ostberlin wohnten, zunächst mit Lehraufträgen versehen und später zu Dozenten des Kirchlichen Lehramtes ernannt.
Für uns Studenten war das eine einmalige Situation. Wir fühlten uns mit dafür verantwortlich, dass diese Hochschule überhaupt leben konnte. Wir hatten Lehrer wie Hans-Jürgen Hermisson, Christoph Demke und Eberhard Jüngel, die nur wenig älter waren als wir. Sie beteiligten uns mit ihrem Lehren am eigenen Lernen. Sie spornten uns zu einem ungemein intensiven Studieren an. In dieser Zeit wurde meine eigene theologische Existenz in der Freude am Beruf eines Pfarrers und Hochschullehrers begründet. Bei dem Ruf „Berlin ist zu“ kann es darum nicht bleiben, wenn ich mich an den 13. August 1961 erinnere. Am 13. August begann sich für mich auch das Tor zu einer Theologie öffnen, die durch keine Mauer einzuengen und zu begrenzen war.
Wolf Krötke ist Professor für Systematische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitherausgeber von „die Kirche“.