Berlin. Seit 40 Jahren gibt es das Kirchenasyl in Deutschland. 1983 fing es in West-Berlin an. Eine von Abschiebung bedrohte palästinensische Familie fand damals Unterschlupf in der evangelischen Kirchengemeinde Heilig Kreuz in Kreuzberg. Ende 2022 wurden bundesweit 320 Kirchenasyle gezählt, davon 37 in der Hauptstadt. Engagierte Kirchengemeinden werden weiterhin gebraucht, die Nachfrage ist hoch, sagt Pfarrer Bernhard Fricke, Vorsitzender des Vereins Asyl in der Kirche Berlin-Brandenburg, im Gespräch mit Lukas Philippi (epd) zum Jubiläum.
Herr Fricke, wie sieht es denn heute mit der Motivation von Kirchengemeinden aus, Menschen Kirchenasyl zu gewähren?Seit dem Beginn der Kirchenasylbewegung vor 40 Jahren hat sich vieles verändert, sowohl in der Asylgesetzgebung als auch im Bewusstsein der Gesellschaft, Menschen in Not aufzunehmen. Gerade die Willkommenskultur der vergangenen Jahre hat auch in den Kirchengemeinden viele Engagierte gefunden. Die Motivation, Kirchenasyl zu gewähren, ist unverändert hoch.
Gibt es denn weiterhin den Bedarf?
Die aktuelle Situation lässt sich so beschreiben: Bei der hohen Nachfrage nach Asyl gibt es auch eine hohe Nachfrage nach Kirchenasyl. Es geht um Fälle, in denen eine negative Entscheidung und somit eine Abschiebung zu unverantwortlichen Härten führen würde. Kurz gesagt: Wir brauchen mehr Kirchengemeinden. Gleichzeitig können Kirchengemeinden nicht mehr so einfach Räume für die Unterbringung und Ehrenamtliche für die Begleitung stellen.
Sind da auch rechtliche Bedenken?
Die inhaltliche Frage, ob ein Kirchenasyl „erlaubt“ ist, zieht sich seit 40 Jahren durch die Entscheidungen der Gemeindekirchenräte. Unsere Antwort darauf: Kirchenasyl ist eine legitime Form, den Staat auf Härtefälle aufmerksam zu machen und Menschen vor Abschiebung zu schützen – so legitim zum Beispiel wie eine Petition.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Asylpolitik Deutschlands und der EU sehr verändert. Mit welchen rechtlichen Widrigkeiten haben Gemeinden und von Abschie- bung bedrohte Menschen heute am meisten zu kämpfen?
Bei der überwiegenden Zahl handelt es sich heute um sogenannte „Dublin-Kirchenasyle“. Den Betroffenen droht die Rückführung in ein anderes europäisches Land, in das Land, in dem sie zuerst einen Asylantrag gestellt oder Fingerabdrücke abgegeben haben. Für diese Fälle gibt es die Absprache mit dem zuständigen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), dass eine erneute Härtefallprüfung möglich ist. Dafür schreiben die Kirchengemeinden dann ein sogenanntes Dossier. Wir hören zunehmend von schlimmen Gewalterfahrungen der Geflüchteten. Das betrifft Länder wie Polen, Bulgarien, Kroatien und andere. Der Umgang mit den Menschen dort sollte das BAMF dazu bringen, auf Rücküberstellungen zu verzichten und den traumatisierten Menschen Schutz zu gewähren. Es geht um Gewalterfahrungen an den europäischen Außengrenzen und beim Umgang mit Geflüchteten im Asylverfahren, zum Beispiel durch Inhaftierungen oder mangelhafte ärztliche Versorgung. Die Kirchengemeinden haben eine große Aufgabe, diese verletzten und verletzlichen Menschen zu begleiten. Als Verein unterstützen wir sie dabei, bieten Fortbildungen an und vermitteln ehrenamtliche Hilfe.
Die Idee des Kirchenasyls ist heutzutage eine Fiktion. Tatsächlich hat die Polizei auch Zugriff auf Menschen, die glauben, durch Kirchenmauern geschützt zu sein. Hat sich die Haltung der Behörden und der Politik gegenüber Kirchenasylen in Deutschland verändert?
Es zeichnet die Kirchenasylbewegung und die Politik aus, dass sie im Respekt voreinander handeln. In 40 Jahren Kirchenasyl hat sich diese Haltung immer weiter entwickelt. Die Behörden wissen um die Ernsthaftigkeit von Entscheidungen in den Kirchengemeinden. Es bleibt der große Wunsch, dass es einmal keine Kirchenasyle mehr braucht – oder zumindest viel weniger. Dazu müssten die Behörden aber anders entscheiden und genau hinhören, von welchen schlimmen Erfahrungen die Menschen berichten. Auch das europäische Asylsystem müsste sich grundlegend ändern.